Systemische Evolutionstheorie

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Systemische Evolutionstheorie ist eine systemtheoretische Verallgemeinerung der Darwinschen Evolutionstheorie.[1][2] Diese von Peter Mersch verfasste und veröffentlichte Evolutionstheorie beruht auf einer materialistischen Weltanschauung[3] und auf Erkenntnissen der modernen Demografie und Biokybernetik. Sie erhebt den Anspruch, alle eigendynamischen evolutionären Systeme aus drei allgemeingültigen Prinzipien heraus beschreiben zu können. Eine separate Memetik benötigt sie dafür nicht.

Evolutionsmodell[Bearbeiten]

Die Darwinsche Evolutionstheorie beruht auf einem passiven Evolutionsmodell (die Individuen passen sich durch Selektion an einen sich wandelnden Lebensraum an). Die systemische Evolutionstheorie besitzt demgegenüber ein aktives Evolutionsmodell: Die der Evolution unterliegenden Individuen sind allesamt Evolutionsakteure, die den eigendynamischen Prozess der Evolution aufgrund ihrer Systemeigenschaften selbst betreiben. Sie folgt damit Vorstellungen, die auch im Rahmen der Theorie komplexer adaptiver Systeme vertreten werden.

Systeme[Bearbeiten]

Grundlage der systemischen Evolutionstheorie ist die allgemeine Systemtheorie. Ein System ist eine relativ stabile, geordnete Menge aus Elementen und Beziehungen, die als Einheit begriffen wird, und die sich gegenüber ihrer Außenwelt (Umwelt) abgrenzt. Beispiele für Systeme sind: Sonnensystem, Lebewesen (lebende Systeme), Unternehmen, technische Geräte.
Für Systeme besteht folglich eine System-Umwelt-Differenz. Systeme können sich spontan (zum Beispiel durch Kooperation) aus Elementen einer niederen Systemebene bilden und dabei emergente[4] und resultante Systemeigenschaften ausbilden. Eine charakteristische emergente/resultante Eigenschaft lebender Systeme ist das noch zu erwähnende Reproduktionsinteresse, welchem im Rahmen der systemischen Evolutionstheorie eine entscheidende Rolle zukommt.

Evolutionsfähige Populationen[Bearbeiten]

Gemäß der systemischen Evolutionstheorie sind nur Populationen, deren Individuen selbstreproduktive Systeme sind, evolutionsfähig.

Ein selbstreproduktives System ist ein gegenüber seiner Umwelt energetisch offenes System, das

  1. in Bezug auf seine Umwelt Kompetenzen (Fitness, Anpassung) zur Erlangung von Ressourcen besitzt (die für die Reproduktion benötigt werden),
  2. über Verfahren zur Reproduktion seiner Kompetenzen (zum Beispiel: interner/externer Metabolismus; interne/externe Fortpflanzungsfunktionalität) verfügt und
  3. ein Reproduktionsinteresse besitzt.

Die Punkte 1 und 2 repräsentieren Fähigkeiten, der Punkt 3 steht für das dazugehörige Interesse, die Fähigkeiten in einem bestimmten Sinne zu nutzen.

Beispiel 1:
Peter und Paul sind beide 25 Jahre alt. Peter hat vor einem Jahr seine Liebe zum Klavierspiel entdeckt. Jede freie Minute setzt er sich ans Piano und übt. Paul erhielt dagegen schon mit vier Jahren Klavierunterricht und beherrscht die Mondscheinsonate wie im Schlaf. Allerdings hat ihm der frühe Drill das Instrument verleidet. Nun spielt er nur noch, um Frauen zu beeindrucken. Peter hat folglich das deutlich höhere Reproduktionsinteresse in Bezug auf die vorhandenen Klavierspielkompetenzen als Paul, der jedoch die größeren Klavierspielkompetenzen.
Beispiel 2:
Die beiden Unternehmen "Big Headache" und "Stop Headache" teilen sich den Markt für Kopfschmerzmittel. "Big Headache" hat einen Marktanteil von 70 Prozent und erzielt einen jährlichen Gewinn von 5 Milliarden Euro vor Steuern. In die Forschung & Entwicklung investiert es jährlich 200 Millionen Euro. "Stop Headache" hat dagegen einen Marktanteil von lediglich 30 Prozent. Sein Gewinn vor Steuern beträgt 500 Millionen Euro. In die Forschung & Entwicklung investiert es jährlich 1,2 Milliarden Euro. "Stop Headache" besitzt folglich die deutlich höheren Reproduktionsinteressen als "Big Headache", dieses jedoch die aktuell größeren Marktkompetenzen.

Selbstreproduktive Systeme werden im Rahmen der systemischen Evolutionstheorie auch synonym als Evolutionsakteure bezeichnet. Die emergente Eigenschaft Reproduktionsinteresse spezifiziert selbstreproduktive Systeme als Akteure, das heißt als Systeme, die ihre Evolution aktiv und eigendynamisch selbst betreiben. Lebende Systeme sind selbstreproduktive Systeme, genauso wie Superorganismen (z. B. Organisationssysteme, Unternehmen).

Gemäß der systemischen Evolutionstheorie haben sich in der Natur bislang drei Ebenen selbstreproduktiver Systeme ausgebildet:

Franz M. Wuketits erläutert den Begriff Reproduktionsinteresse (Fortpflanzungsinteresse) wie folgt[5]:

Nur durch die Fortpflanzung wird sichergestellt, dass Individuen auch in der nächsten Generation genetisch repräsentiert sind. Ihre Fortpflanzungsinteressen bestimmen daher das (soziale) Verhalten von Tieren und Menschen in ganz erheblichem Maße.
Der Ausdruck "Interesse" darf nicht missverstanden werden. Er wird in der Soziobiologie in einem sehr allgemeinen Sinn verwendet. Niemand denkt dabei daran, dass ein Elefant oder gar eine Auster bewusste Interessen entwickeln und ihre Fortpflanzungsstrategien bewusst anwenden. Das gilt im Übrigen auch für andere Ausdrücke, wie etwa "Egoismus" oder "egoistisch", die vielfach als Metaphern verwendet werden. In der Natur folgt nichts, auch keine Verhaltensweise, einer bestimmten Absicht. Wichtig ist nur, dass die Reproduktion gewährleistet wird. Es ist aber nicht möglich, dafür Begriffe außerhalb unserer Sprachkonvention zu finden.

Und Eckart Voland stellt dar, dass die Soziobiologie das Vermehrungsbestreben von Individuen als gegebene Systemeigenschaft des Lebens und den Selbsterhalt und die Vermehrung als evolvierte Lebensinteressen auffasst[6].

Gemäß der systemischen Evolutionstheorie können nur Populationen, deren Individuen allesamt selbstreproduktive Systeme sind, eigendynamisch evolvieren. Solche Populationen werden als evolutionsfähig bezeichnet. Da Gene, Meme, Entscheidungen, Hypothesen, technische Geräte, Kunstwerke, Äpfel etc. die genannten Eigenschaften nicht besitzen, scheiden sie als Gegenstand der Evolution von vornherein aus, ganz im Gegensatz zu den Lebewesen oder den Superorganismen.

Für die systemische Evolutionstheorie ist die Triebfeder der Evolution nicht die natürliche Selektion[7], sondern es sind die gegebenenfalls unterschiedlich starken Reproduktionsinteressen der Individuen, die sie zu Akteuren im selbstorganisatorischen Prozess der Evolution machen. Wenn es schon keinen externen Schöpfer gibt, dann muss die Evolution folglich durch etwas anderes vorangetrieben werden. Die systemische Evolutionstheorie behauptet: Die selbstreproduktiven Systeme treiben mit ihren Reproduktionsinteressen die Evolution eigendynamisch an.

Eine Konsequenz daraus ist: Will man eine evolutionäre Entwicklung (zum Beispiel die technische Evolution) verstehen und beschreiben, sollte man sich zunächst auf die Suche nach den die Evolution antreibenden selbstreproduktiven Systeme machen. Evolutionsreplikatoren und Replikatorgleichungen sind für die systemische Evolutionstheorie demgegenüber von nachrangiger Bedeutung.

Kompetenzerhalt[Bearbeiten]

In der systemischen Evolutionstheorie geht es letztlich um die evolutionäre Vererbung bzw. Übertragung von Kompetenzen: Nur das, was seine Kompetenzen in Relation zum Lebensraum, einschließlich auch gegenüber den Wettbewerbern aus der gleichen Population, bewahren kann, vermag dauerhaft zu bestehen. Anders als die Darwinsche Evolutionstheorie oder die Theorie der egoistischen Gene kennt systemische Evolution keine Beschränkung auf genetische Kompetenzen. Während es gemäß den Hauptsätzen der Thermodynamik im Universum zu einem fortwährenden Informationsverlust kommt, handelt es sich in der Vorstellung der systemischen Evolutionstheorie bei Lebewesen und sozialen Systemen um einen informationsgewinnenden (abgeschwächt: informations- und kompetenzerhaltenden) Prozess, den Niklas Luhmann als Autopoiese bezeichnet.
Damit biologische Informationen (Kompetenzen gegenüber der Umwelt) entstehen und dauerhaft reproduziert und erneuert werden können, müssen sie in irgendeiner Form speicherbar sein, es müssen Möglichkeiten zur Kompetenzerhaltung bestehen.
Bei lebenden Systemen ist zunächst ein Zielkonflikt zwischen dem Kompetenzerhalt während des aktuellen Lebens (Selbsterhalt) und für die arterhaltende Fortpflanzung über das eigene Leben hinaus auszumachen. Jedes Lebewesen steht beständig vor der Frage, ob es eher in Selbsterhalt oder Fortpflanzung investieren soll. Aus Sicht des Individuums ist die Selbsterhaltung vorrangig egoistisch, die Fortpflanzung jedoch altruistisch, denn sie geschieht im Dienste der Nachkommen. Allerdings behauptet die Theorie der egoistischen Gene[8], dass man die Fortpflanzung aus der Sicht der Gene betrachten müsse. Gemäß der Vorstellung von der Bewahrung der eigenen Gene ist die Fortpflanzung gleichfalls egoisitisch.

Neben dem bereits genannten Zielkonflikt besteht ein weiterer, nämlich zwischen den verschiedenen Ebenen des Kompetenzerhalts. Eva Jablonka und en:Marion J. Lamb sprechen in diesem Zusammenhang von einer Evolution in vier Dimensionen[9]. Biologische Informationen sind gemäß solcher Vorstellungen in einem Bootstrap-Verfahren entstanden, das die systemischen Evolutionstheorie im Hinblick auf die Kompetenzübermittlung ebenfalls aufweist:

Genetische Kompetenzspeicherung

Dies ist die unterste Ebene der biologischen Informationsgewinnung, das heißt der Bootstrap selbst. Die Speicherung der Kompetenzen geschieht in der DNA und deren Weitergabe in den Genen erfolgt im Rahmen der Fortpflanzung ausschließlich zwischen Eltern und Kindern. Eine Vererbung erworbener Kompetenzen ist ausgeschlossen. Der Informationsgewinnungsprozess ist somit darwinistisch.

Epigenetische Kompetenzspeicherung

Hierbei handelt es sich um die nächsthöhere Ebene der biologischen Informationsgewinnung. Die epigenetische Speicherung der Kompetenzen geschieht vermutlich durch Methylierung der DNA und deren Weitergabe erfolgt im Rahmen der Fortpflanzung ausschließlich zwischen Eltern und Kindern. Dabei können auch erworbene Kompetenzen vererbt werden. In diesem Sinne ist der Informationsgewinnungsprozess lamarckistisch.

Kompetenzspeicherung in Gehirnen

Die Speicherung der Kompetenzen erfolgt durch neuronale Vernetzungen in den Gehirnen, statt wie zuvor ausschließlich in den Genen. Eine Weitergabe der Kompetenzen ist zwischen beliebigen Individuen einer Population möglich (nicht nur zwischen Eltern und Kindern) und zwar mittels Imitation, Lernen, Erziehung, Sozialisation etc. Dabei werden ausschließlich erworbene Kompetenzen vererbt. Der Informationsgewinnungsprozess ist folglich lamarckistisch. Man könnte gewissermaßen sagen, dass die Natur mit dem Gehirn ein die DNA ergänzendes Medium zur schnellen und flexiblen Speicherung komplexer erworbener Kompetenzen entwickelt hat. Das Verhältnis von Genom und Gehirn dürfte dabei in etwa vergleichbar mit dem Verhältnisvon Hardware und Software im Computerbereich sein.

Externe Kompetenzspeicherung

Die Speicherung der Kompetenzen geschieht außerhalb der Körper von Lebewesen, was eine raum- und zeitübergreifende Weitergabe der Kompetenzen ermöglicht, etwa an Menschen, die in 10.000 km Entfernung leben oder erst in 100 Jahren geboren werden. Auch hier erfolgt die Kompetenzvermittlung mittels Imitation, Lernen, Erziehung, Sozialisation etc. Es werden ausschließlich erworbene Kompetenzen vererbt. In diesem Sinne ist der Informationsgewinnungsprozess lamarckistisch. Der Mensch ist das bislang einzige Lebewesen, dem in bewusster schöpferischer Arbeit eine teilweise externe Kompetenzspeicherung in symbolischen Formen, wie Zahlen, Schriftzeichen, Binärcode etc., gelungen ist. Insoweit sind Menschen in der Natur einzigartig. Die externe Kompetenzspeicherungsfähigkeit des Menschen war im Zusammenwirken mit der menschlichen Kooperationsfähigkeit die Grundvoraussetzung für das flexible Entstehen komplexer Organisationen, denn hierdurch können diese ihre Elemente, zum Beispiel einzelne Mitarbeiter, jederzeit austauschen, ohne ihre Kompetenzen in Gänze zu verlieren, da diese teilweise in Datenbanken, Arbeitsanweisungen, Dokumenten etc. extern vorgehalten werden. Superorganismen sind letztlich selbstreproduktive Systeme mit eigenständigen Informationsgewinnungsprozessen.

Selektion und Wettbewerbskommunikation[Bearbeiten]

In der Darwinschen Evolutionstheorie werden biologische Arten bzw. deren Gene bezüglich ihres Überlebens (Vertreten-seins in der nächsten Generation) selektiert. Entsprechend werden drei verschiedene Selektionsprinzipien unterschieden:

  1. Natürliche Selektion
  2. Sexuelle Selektion
  3. Verwandtenselektion (Theorie der egoistischen Gene)

Manchmal wird im Zusammenhang mit der Darwinschen Theorie auch noch von einer Gruppenselektion bzw. auch einer Multi-Level-Selection gesprochen. Das Thema ist jedoch umstritten.

Die systemische Evolutionstheorie kennt im Darwinschen Sinne keine Selektion. Stattdessen geht es primär um die Verteilung knapper Ressourcen unter lebenden Organismen und systemischen Entitäten. Da alle Individuen einer evolutionsfähigen Population selbstreproduktive Systeme sind, befinden sie sich in ihrer jeweiligen Umwelt im Wettbewerb um die dort vorhandenen Ressourcen, die sie zur Reproduktion ihrer Kompetenzen benötigen. Sind die Ressourcen knapp, kommt es zu einer verstärkten Konkurrenz unter den Individuen.

Die systemische Evolutionstheorie unterscheidet in der Wettbewerbskommunikation zwei grundsätzlich unterschiedliche Kommunikationsverfahren, mit denen die Verteilung knapper Ressourcen unter konkurrierenden Individuen verhandelt werden kann:

Dominante Kommunikation (Push, Recht des Stärkeren)[Bearbeiten]

Eine Wettbewerbskommunikation, bei der die Verteilung der Ressourcen aus der Sicht der Ressourceninteressenten erfolgt und bei der folglich keine Rücksicht auf die Selektionsinteressen der Ressource bzw. der Ressourcenbesitzer genommen wird, ist dominant und heißt Push-Kommunikation. Beispiele für dominante Interaktionen sind die Nahrungswahl in der Natur (Fressen oder gefressen werden, Recht des Stärkeren) und die Haremsbildung im Tierreich (Recht des Stärkeren).
Wettbewerbskommunikation muss keineswegs "fair" sein, da bei ihr üblicherweise anhand von Fitness-Indikatoren und dem Recht des Stärkeren oder des Besitzers diskriminiert wird. Es lässt sich dann jedoch auch nicht ausschließen, dass Ressourceninteressenten etwa aus sozialen, rassistischen, religiösen oder geschlechtlichen Gründen systematisch benachteiligt werden.

Aktuell gestehen Menschen anderen Arten (Pflanzen und Tieren) gegenüber üblicherweise kein Recht des Besitzenden zu, sondern ausschließlich anderen Menschen.

Gefallen-wollen-Kommunikation (Pull, Recht des Besitzenden)[Bearbeiten]

Mit der Einführung der sexuellen Selektion gelang der Natur eine ganz entscheidende Neuerung: Sie entwickelte eine Art Markt für Sexualpartnerschaften und damit die sogenannte Gefallen-wollen-Kommunikation (Pull-Kommunikation, Recht des Besitzenden).
Insgesamt kann der Ablauf einer Gefallen-wollen-Kommunikation wie folgt beschrieben werden:

  • Der Empfänger (Käufer, Weibchen, Ressourceninhaber) signalisiert seine Bereitschaft zur Entgegennahme von Selektionsinteressen.
  • Verschiedene Sender (Verkäufer, Männchen, Ressourceninteressenten) übermitteln ihre Selektionsinteressen an den Empfänger.
  • Der Empfänger (Käufer, Weibchen, Ressourceninhaber) selektiert einen Sender (Verkäufer, Männchen, Ressourcengewinner).

Im ersten Schritt betritt der Empfänger zunächst einen bestimmten Kontext, der in der Folge eine sinnhafte Gefallen-wollen-Kommunikation ermöglicht.
Die Gefallen-wollen-Kommunikation hat neben der Verteilung knapper Ressourcen noch eine weitere wesentliche Funktion: Sie kann evolutive Lebensräume erzeugen, das heißt, Populationen und ihre dazugehörigen Umwelten entstehen lassen, in denen ohne Dominanz (Kampf ums Dasein) um die knappen Ressourcen konkurriert wird. In ihnen gilt das Recht des Besitzenden und viel weniger das Recht des Stärkeren. Einmal auf den Weg gebracht, entwickelt sich in ihnen alles gemäß den Prinzipien der systemischen Evolutionstheorie. Dass auf diese Weise tatsächlich neue evolutive Lebensräume geschaffen werden, zeigt sich unmittelbar bei einer Betrachtung der System-Umwelt-Differenzen: Bei der natürlichen Selektion ist die Umwelt die Natur, bei der sexuellen Selektion dagegen die Population. Wir haben es also bei der natürlichen und sexuellen Selektion mit völlig unterschiedlichen Evolutionen in verschiedenen Lebensräumen zu tun, die sich zwar anhand von Fitnessindikatoren synchronisieren mögen, jedoch ansonsten nichts miteinander zu tun haben.

Im Rahmen der sexuellen Selektion mussten die Männchen erstmalig ihre Triebe beherrschen können, und zwar so lange, bis sie ein Weibchen von sich überzeugt hatten. Mit der sexuellen Selektion und damit der Gefallen-wollen-Kommunikation kam im Sinne von Norbert Elias[10] die Zivilisation in die Welt. Nun waren die Rechte eines Kommunikationspartners, wie Ressourcenbesitz, Leben, Würde etc., zu respektieren und den eigenen quasi gleichzustellen. Davor gab es nur das egoistische Fressen-und-Gefressen-werden beziehungsweise das Recht des Stärkeren. Dies kann an einem Beispiel verdeutlicht werden:

Eine Frau hat in einem Wäldchen mehrere Stunden lang Früchte gesammelt und befindet sich nun mit einem ganzen Korb reifer Beeren auf dem Weg nach Hause. In der Wildnis könnte sie dabei einem stärkeren Bären (oder Menschen) begegnen, der die gesammelte Nahrung nicht als ihr Eigentum akzeptiert, sondern von seinem Recht des Stärkeren Gebrauch macht (Dominanz).
In Zivilisationen ist ein solches Verhalten nicht erlaubt.[11] Allerdings könnte hier ein Entgegenkommender der Sammlerin ein attraktives Angebot machen (zum Beispiel 10 Euro), um auf diese Weise doch noch in den Besitz der Früchte zu gelangen (Gefallen-wollen; Recht des Besitzenden).

Bezogen auf die Darwinschen Evolutionsprinzipien kann festgehalten werden: Bei der Haremsbildung erfolgt die Verteilung knapper Ressourcen (Weibchen) mittels der dominanten Kommunikation (Recht des Stärkeren), bei der sexuellen Selektion mittels der Gefallen-wollen-Kommunikation (Recht des Besitzenden). In beiden Fällen geht es dabei primär um eine Selektion im männlichen Geschlecht: Einige Männchen erlangen mehrere Weibchen, andere dafür keins. Aus Selektionsgesichtspunkten besteht deshalb kein Unterschied zwischen der Haremsbildung und der sexuellen Selektion. Der eigentliche Unterschied betrifft die jeweils zum Tragen kommende Wettbewerbskommunikation (Dominanz versus Gefallen-wollen). Man könnte deshalb auch sagen: Mit der sexuellen Selektion entdeckte Darwin kein neues Selektionsprinzip (denn dann müsste es auch eine Haremsselektion geben), sondern eine gegenüber der wilden Natur abweichende Wettbewerbskommunikation, die in der Lage ist, völlig neue Lebensformen hervorzubringen.

Evolutionsprinzipien[Bearbeiten]

Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie lauten:

  • Eine Population besteht aus lauter selbstreproduktiven Systemen (Individuen), die sich allesamt voneinander unterscheiden, und die unterschiedliche Kompetenzen in Bezug auf ihre Umwelt besitzen. Das Prinzip heißt Variation.
  • Die Individuen der Population besitzen (eventuell unterschiedlich starke) Reproduktionsinteressen. Die Reproduktionsinteressen korrelieren nicht negativ mit den Kompetenzen der Individuen in Bezug auf ihre Umwelt. Aufgrund ihrer Reproduktionsinteressen konkurrieren die Individuen um den Zugriff auf die Ressourcen der Umwelt. Die Verteilung der Ressourcen unter den Individuen erfolgt dabei dominant (Push; Recht des Stärkeren) und/oder per Gefallen-wollen (Pull; Recht des Besitzenden). Das Prinzip heißt Reproduktionsinteresse.
  • Es existieren variationserhaltende Reproduktionsprozesse, die die Kompetenzen der Individuen in Bezug auf ihre Umwelt aufbauen, modifizieren oder replizieren können, wobei das Ergebnis von Modifikation oder Replikation gegenüber dem Ausgangszustand zwar verändert ist, in der Regel aber auch erkennbare Ähnlichkeiten aufweist. Für die Reproduktion werden Ressourcen aus der Umwelt benötigt. Das Prinzip heißt Reproduktion.

Die Prinzipien "Reproduktion und Variation" der Systemischen Evolutionstheorie sind im Grunde systemtheoretische Verallgemeinerungen der namensgleichen Prinzipien aus der Darwinschen Evolutionstheorie. Allerdings lässt die Systemische Evolutionstheorie auch andere Reproduktionsverfahren zu, als nur Kopien von sich anzufertigen. Das Prinzip "Reproduktionsinteresse" der systemischen Evolution stellt einen Ersatz der verschiedenen Selektionsprinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie dar. Die systemische Evolutionstheorie kennt in dem Sinne keine Selektionsprinzipien mehr.

Zu beachten ist dabei: Die Darwinsche Evolutionstheorie basiert wie die Theorie der egoistischen Gene auf der Bevölkerungslehre von Malthus. Sie nimmt an, dass alle Individuen einer Population bestrebt sind, sich bzw. ihre Gene möglichst oft zu reproduzieren. Davon geht die systemische Evolutionstheorie nicht aus. Stattdessen führt sie als zusätzliche Variable das individuelle Reproduktionsinteresse ein. Sie genügt damit auch moderneren Fertilitätstheorien. Individuen können sich also von vornherein oder über die ihnen zugewiesene soziale Rolle in Bezug auf die Fortpflanzung unterschiedlich altruistisch oder egoistisch verhalten und dementsprechend unterschiedlich stark ausgebildete Reproduktionsinteressen besitzen.

Für biologische Populationen, deren Individuen alle ein vergleichbar starkes bzw. maximales Reproduktionsinteresse aufweisen, wovon Darwin gemäß Malthus ausgeht, lässt sich die Darwinsche Evolutionstheorie mit ihren Selektionsprinzipien aus der Systemischen Evolutionstheorie ableiten. Mit anderen Worten: Darwins Theorie über die Evolution biologischer Arten ist als ein Spezialfall der systemischen Evolutionstheorie aufzufassen. [12]

Weitere Unterschiede[Bearbeiten]

A) Bei der Darwinschen Evolutionstheorie steht der Reproduktionserfolg im Vordergrund, bei der systemischen Evolutionstheorie dagegen das Reproduktionsinteresse. Reproduktionsinteresse ist eine Systemeigenschaft[13], deren Status gegebenenfalls abgefragt werden kann, was für den Reproduktionserfolg jedoch nicht gilt. Man kann zum Beispiel jüngere erwachsene Personen befragen, wie viele Kinder sie sich in ihrem Leben wünschen, nicht jedoch, wie viele Kinder sie in ihrem Leben haben werden.

B) Die moderne synthetische Evolutionstheorie nimmt an, dass Individuen, die aufgrund ihres Genotyps besonders gut an ihre Umwelt angepasst sind, eine hohe Fitness besitzen und über hohe Kompetenzen in Bezug auf ihren Lebensraum verfügen, ihre Gene in größerem Maße an Folgegenerationen vererben, als Individuen, die im Vergleich dazu schlechter angepasst sind. Ihre Gene erfahren demzufolge im Laufe der Zeit eine Steigerung ihrer anteilsmäßigen Vertretung im Genpool der Population.
Das Problem an dieser Auffassung ist, dass in sozialen Gemeinschaften das individuelle Reproduktionsinteresse - trotz seiner außerordentlichen Bedeutung für den individuellen Reproduktionserfolg - keineswegs auf genetischen Faktoren beruhen muss, sondern maßgeblich durch die sozialen Verhältnisse oder die soziale Organisation bestimmt sein kann. Es muss dann nicht einmal auf nichtgenetische Weise (Imitation, Erziehung, Bildung, Sozialisation etc.) "vererbt" werden, wie moderne menschliche Gesellschaften demonstrieren. Gemäß einer ökonomischen Theorie der Fertilität der modernen Demografie fallen Fertilitätsentscheidungen heute primär auf Basis von Kosten/Nutzen-Abwägungen der potenziellen Eltern. Das individuelle Reproduktionsinteresse (der Kinderwunsch) richtet sich dabei sehr stark an den biografischen und ökonomischen Opportunitätskosten von Kindern aus. Und diese steigen - u.a. aufgrund der Gleichberechtigung der Geschlechter und der allgemeinen Berufstätigkeit von Frauen - mit dem sozialen Erfolg, dem Einkommen, der Bildung und dem IQ. Es besteht somit eine negative Korrelation zwischen Reproduktionsinteresse und sozialem Erfolg bzw. sozialen Erfolgsfaktoren.
Hinzu kommt, dass in modernen Wohlfahrtsstaaten der Reproduktionserfolg fast ausschließlich auf dem individuellen Reproduktionsinteresse (Kinderwunsch) beruht. Richard Dawkins schreibt dazu:

„Nun ist, was den modernen, zivilisierten Menschen betrifft, folgendes geschehen: Die Größe der Familie ist nicht mehr durch die begrenzten Mittel beschränkt, die die einzelnen Eltern aufbringen können. Wenn ein Mann und seine Frau mehr Kinder haben, als sie ernähren können, so greift einfach der Staat ein, das heißt der Rest der Bevölkerung, und hält die überzähligen Kinder am Leben und bei Gesundheit. Es gibt in der Tat nichts, was ein Ehepaar, welches keinerlei materielle Mittel besitzt, daran hindern könnte, so viele Kinder zu haben und aufzuziehen, wie die Frau physisch verkraften kann. Aber der Wohlfahrtsstaat ist eine sehr unnatürliche Sache. In der Natur haben Eltern, die mehr Kinder bekommen, als sie versorgen können, nicht viele Enkel, und ihre Gene werden nicht an zukünftige Generationen vererbt.“

Das egoistische Gen.[14]

In die Terminologie der systemischen Evolutionstheorie übersetzt - behauptet Dawkins damit: In Wohlfahrtsstaaten wird der Reproduktionserfolg nicht mehr durch die genetische Fitness bestimmt, sondern durch individuelle Reproduktionsinteressen, dem individuellen Kinderwunsch. Welche Gene die nächste Generation erreichen, ist demgemäß in erster Linie eine Folge des individuellen Kinderwunsches (Reproduktionsinteresses), der primär auf sozialen/ökonomischen Faktoren beruht.
Dies hat nun gleichfalls eine negative Korrelation zwischen Reproduktionserfolg und sozialem Erfolg zur Folge. Diese Beziehung ist in der Literatur als Central Theoretical Problem of Human Sociobiology[15] bzw. als demografisch-ökonomisches Paradoxon[16] bekannt. Sie ist erst seit Beginn der Moderne existent, eine Tatsache, die von erheblicher erkenntnistheoretischer Brisanz ist.
Mit der systemischen Evolutionstheorie klärt sich also gewissermaßen die aus darwinistischer Sicht völlig unterschiedliche Situation in der Natur einerseits und in Sozialstaaten andererseits auf: In der Natur hängt der individuelle Reproduktionserfolg - gemäß Darwinismus - primär von den genetischen Merkmalen eines Individuums (Variable Fitness) ab, in einem Sozialstaat dagegen von der nicht-genetischen sozialen Rolle und sozialen Organisation des Staates (Variable Reproduktionsinteresse).
Ein Sozialstaat könnte folglich die eigene Weiterentwicklung durch geeignete organisatorische Maßnahmen unmittelbar selbst beeinflussen. Demzufolge könnte man sagen: Bei der natürlichen Selektion ist der "Züchter" die Natur, bei der sexuellen Selektion sind es die Weibchen und in Sozialstaaten der Sozialstaat selbst (soziale Selektion). Wohlfahrtsstaaten müssen sich also auf eine bestimmte Weise organisieren, um ihre humanen Kompetenzen bewahren zu können. Nicht jede Organisation ist in diesem Sinne kompetenzbewahrend.

C) Wie (unter B) dargestellt wurde, hängt in modernen menschlichen Wohlfahrtsstaaten der Reproduktionserfolg fast ausschließlich vom individuellen Reproduktionsinteresse (Kinderwunsch) und kaum mehr von der Fitness beziehungsweise der genetischen Ausstattung des Individuums ab[17].
In der die natürliche Selektion repräsentierenden de:Price-Gleichung könnte man deshalb für moderne Wohlfahrtsstaaten den Reproduktionserfolg durch das Reproduktionsinteresse ersetzen. Aus der Price-Gleichung lässt sich dann folgern, dass solche sozialstaatlichen Populationen (bei wenig veränderten Umweltbedingungen) ihre Lebensraumkompetenzen konservieren oder gar steigern können (evolvieren können), wenn Cov(r,f) >= 0 ist (r = Reproduktionsinteresse, f = Fitness, Cov = Kovarianz), das heißt, wenn eine nicht negative Korrelation zwischen Fitness und Reproduktionsinteresse besteht. Dies ist exakt eine der zentralen Bedingungen der systemischen Evolutionstheorie, die sich somit auch über die Price-Gleichung begründen lässt.

D) Die Evolutionsbiologie definiert Altruismus als ein Verhalten, welches den Reproduktionserfolg anderer auf Kosten des eigenen Reproduktionserfolges erhöht. In der Terminologie der systemischen Evolutionstheorie übersetzt sich das in: Altruismus ist ein Verhalten, welches das Reproduktionsinteresse anderer auf Kosten des eigenen Reproduktionsinteresses erhöht. Ein Absenken des eigenen Reproduktionsinteresses unterhalb Größen, die der individuellen Fitness entsprechen, setzt dann in arbeitsteiliger Weise Kräfte und Ressourcen frei, die anderen zur Erhöhung derer Reproduktionsinteressen und damit gegebenenfalls auch derer Reproduktionserfolge zur Verfügung gestellt werden können.
Bei der Variable Reproduktionsinteresse der systemischen Evolutionstheorie geht es deshalb letztlich auch darum, auf welche Weise soziale Gemeinschaften in Bezug auf die Fortpflanzung arbeitsteilig (eusozial) organisiert werden können, ohne ihre Evolutionsfähigkeit zu verlieren. Anders gesagt: Welches Verhältnis muss zwischen Altruisten (sie sind weniger stark an der eigenen Fortpflanzung interessiert) und Egoisten (sie sind stärker an der eigenen Fortpflanzung interessiert) bestehen, damit die Population noch immer evolvieren kann?
Die aus der Price-Gleichung beziehungsweise dem Kriterium Reproduktionsinteresse der Systemischen Evolutionstheorie ableitbare Antwort lautet: Cov(r,f) >= 0. Evolutionär stabile soziale Gemeinschaften sollten folglich so organisiert sein, dass in ihnen der Fortpflanzungsaltruismus nicht systematisch mit der Fitness zunimmt. Die systemische Evolutionstheorie kann auf diese Weise die soziale Organisation der Insektensozialstaaten erklären, ohne dabei auf die biologische Hamilton-Regel Bezug nehmen zu müssen. Wären nämlich alle Arbeiterinnen darum bemüht, einen möglichst hohen eigenen Reproduktionserfolg zu erzielen (Egoismus, hohes Reproduktionsinteresse), würde der Sozialstaat schon bald in eine Opportunitätskostenfalle laufen und daran zugrunde gehen.

E) Der Begriff Reproduktionsprozess ist innerhalb der systemischen Evolutionstheorie sehr weit gefasst: Bei der Fortpflanzung vielzelliger Organismen handelt es sich um eine Möglichkeit, die vorhandenen (genetischen/epigenetischen) Kompetenzen in vergleichbarer Qualität zu erneuern, sodass die Ressourcen des Lebensraumes durch die Nachkommen wieder ähnlich gut verwertet werden können. Die Effizienz der Population bleibt dann erhalten. Beim Menschen erfolgt die Reproduktion der Kompetenzen jedoch nicht nur mittels der Fortpflanzung, sondern auch ganz entscheidend durch die sich daran anschließenden langjährigen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen und die nachfolgende berufliche Tätigkeit in gemeinschaftlichen Arbeits- und Handlungssystemen. Die Kompetenzen des Nachwuchses besitzen dann sowohl genetische als auch kulturelle Anteile, die in unterschiedlichen Reproduktionsprozessen vermittelt werden, und die einmal das Genom und das andere Mal das Gehirn adressieren.
Unternehmen reproduzieren ihre Kompetenzen durch Forschung & Entwicklung, Personalentwicklung, Investitionen etc. Eine der Fortpflanzung von vielzelligen Organismen entsprechende Replikation kennen sie dagegen üblicherweise nicht.

F) In der Darwinschen Evolutionstheorie wird zwischen natürlicher und sexueller Selektion unterschieden. Für beide Evolutionsmechanismen geht sie sogar von unterschiedlichen Prämissen aus. Die systemische Evolutionstheorie kennt demgegenüber keine uneinheitlichen Evolutionsmechanismen, höchstens unterschiedliche Evolutionsräume mit eigenständigen Kommunikationsmechanismen (dominant versus Gefallen-wollen). Die Prinzipien der systemischen Evolutionstheorie sind - anders als in der Darwinschen Evolutionstheorie - gleichbedeutend im Hinblick auf Variation, Reproduktionsinteresse und Reproduktion.

Nichtbiologische Evolution[Bearbeiten]

Die Darwinsche Evolutionstheorie kann soziokulturelle Evolutionsprozesse der Kultur, Technik, Wissenschaft, Gesellschaft, etc. nicht beschreiben. Zur Erklärung der kulturellen Evolution wurde von Richard Dawkins die Memetik[8][18] vorgeschlagen.

Richard Dawkins erläutert die von ihm konzipierte Memetik in Das egoistische Gen anhand der Melodienevolution bei den Neuseeland-Lappenstaren[19]. Die Vorstellung ist in etwa die: Hin und wieder erfindet ein Lappenstar-Männchen eine neue Melodie, die eventuell von anderen Männchen imitiert und gegebenenfalls leicht modifiziert wird. Auf diese Weise ändert und erweitert sich mit der Zeit der Melodienpool der Population. In der Vorstellung der Memetik sind Melodien Meme.

Meme sind zwar etwas grundsätzlich anderes als Gene, sollen sich aber dennoch nach einem ähnlichen Schema als Überlebensmechanismus deuten lassen. Auch für die Meme gilt gemäß Memetik der evolutionstheoretische Dreiklang aus Variation, Selektion und Vererbung.

Meme vermehren sich - anders als Gene - nicht über die biologische Vererbung, sondern durch Imitation. Wann immer jemand etwas per Nachahmung von jemand anderem übernimmt - zum Beispiel Wörter und Wendungen, Theorien, Techniken, Moden und Melodien -, wird ein Mem repliziert (Vererbung). Der genetischen Mutation entsprechen dabei die Abwandlungen oder Neukombinationen von Memen, wie sie im Prozess der Imitation unweigerlich geschehen (Variation). Und schließlich findet sich auch so etwas wie eine Selektion von Memen. Meme stehen nämlich in Konkurrenz zueinander. Sie brauchen gemäß Mem-Theorie zur Replikation das Gehirn als Ressource. Es kommt dann zum Survival of the Fittest, denn nur wenige Theorien, Geschichten oder Melodien werden sich über einen längeren Zeitraum in viele Gehirne einnisten können.

Was die Gene für Lebewesen sind, sind gemäß Memetik die Meme für kulturelle Institutionen. Die eigentlichen Evolutionsakteure sind die Meme, während die Lebewesen als deren vermeintliche Autoren bloß Transportvehikel sind. Bei Memen handelt es sich also um Einheiten, die ähnlich wie Gene danach streben, sich zu verbreiten und zu vermehren.[20] Eine materialistische Kritik der Memetik formulieren Bunge und Mahner unter der Überschrift "Über die Natur der Dinge.[21].

Die systemische Evolutionstheorie beschreibt die Melodienevolution bei den Neuseeland-Lappenstaren dagegen wie folgt[22]:

Die artengleiche Umwelt ist die Gesamtheit der in einer bestimmten natürlichen Umgebung zusammenlebenden Lappenstarmännchen und -weibchen. Die Population (aus Evolutionsakteuren) besteht dagegen nur aus den (singenden) Männchen, die die weiblichen Fortpflanzungsressourcen (Ressourcen) zum Zwecke des genetischen Kompetenzerhalts erlangen möchten (das heißt, die Männchen besitzen ein Fortpflanzungsinteresse). Die Wettbewerbskommunikation ist die Gefallen-wollen-Kommunkation: Die Männchen werben mit ihrem Gesang um das Gefallen der Weibchen. Die Variation unter den Männchen besteht einerseits aufgrund einer genetischen Variation, andererseits ist sie aber auch nichtgenetischer, phänotypischer Art (unterschiedlicher Melodienpool). Die Kompetenzen der Männchen gegenüber ihrer Umwelt (primär den Weibchen) sind in erster Linie ihr Gesang, der zwar eine genetische Komponente besitzt (Lautstärke, Ausdauer, Modulationsfähigkeit etc.), zu einem großen Teil aber auch erworben ist (Melodienimitation). Das Reproduktionsinteresse der Männchen umfasst sowohl ihr Fortpflanzungsinteresse, als auch ihr Interesse am Erhalt der Gesangskompetenzen. Ein an der Fortpflanzung interessiertes Männchen wird deshalb beständig darum bestrebt sein, seine Gesangskompetenzen zu erhalten und zu erneuern (imitieren und üben). Die Reproduktion setzt sich folglich einerseits aus dem Fortpflanzungsvorgang (zwecks genetischem Kompetenzerhalt) und andererseits aus der Imitation bzw. dem Ausprobieren neuer Melodien (zwecks kulturellem Kompetenzerhalt) zusammen.

Hat ein Männchen eine Melodie gefunden, die bei den Weibchen großen Anklang findet, werden die anderen Männchen aus dem eigenen Fortpflanzungsinteresse (Reproduktionsinteresse) heraus nichts Eiligeres zu tun haben, als die Erfolgsmelodie zu imitieren und gegebenenfalls noch um den einen oder anderen Schlenker zu ergänzen. Damit ist keineswegs gemeint, dass die Männchen bewusste Strategien verfolgen, sondern dass sich solche Verhaltensweisen als evolutionär vorteilhaft erwiesen und in der Folge durchgesetzt haben. Der Wettbewerb unter den Männchen bringt - im Zusammenwirken mit der weiblichen Selektion (Gefallen-wollen-Kommunikation) - die Evolution der Melodien bei den Neuseeland-Lappenstaren hervor, und zwar als eine Begleiterscheinung der eigendynamischen Evolution der ihren Reproduktionsinteressen folgenden Lappenstare.

Ganz entsprechend wird im Rahmen der systemischen Evolutionstheorie die Entwicklung der Technik[23], der Wissenschaft,[24] der Kultur[25] und der damit verbundenen Arbeit des Menschen beschrieben.

Sozialdarwinismus[Bearbeiten]

Hauptartikel: Sozialdarwinismus

Die systemische Evolutionstheorie macht deutlich, dass der Sozialdarwinismus vor allem zwei Dinge nicht beachtet hat:

  • In Sozialstaaten spielt die natürliche Selektion keine Rolle mehr. Dort kommt es zur sozialen Selektion gemäß der Organisation des Sozialstaates. Eine Anwendung des Prinzips der natürlichen Selektion auf moderne menschliche Gesellschaften, wie sie vom Sozialdarwinismus versucht wurde, ist deshalb nicht möglich.
  • In der Natur gilt das Recht des Stärkeren. Gemeint ist damit: Die Ressourcenverteilung erfolgt aus der Sicht derjenigen, die an den Ressourcen interessiert sind. Grundlage menschlicher Zivilisationen ist jedoch eine interessenausgleichende Rechtsordnung.

Weil der Darwinismus solche Differenzierungen nicht kennt, glaubten Sozialdarwinisten, es würden auch in menschlichen Zivilisationen Entwicklungen gemäß einem Prinzip des Stärkeren vollzogen. Beispielsweise könnten europäische Eroberer problemlos über andere Kulturen oder Rassen herfallen und sie unterwerfen oder gar auslöschen. Dies wäre ein Ausdruck der Überlegenheit der europäischen Kultur und Evolution vermeintlich auch im Sinne Darwins. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um atavistische Barbarei, die in menschlichen Zivilisationen nicht akzeptiert ist.

Weblinks[Bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Peter Mersch: Systemische Evolutionstheorie. Eine systemtheoretische Verallgemeinerung der Darwinschen Evolutionstheorie. CreateSpace Independent Publishing Platform 6, 2012, ISBN 978-1480071315
  2. Peter Mersch: Evolution, Zivilisation und Verschwendung: Über den Ursprung von Allem. BoD, Norderstedt sowie Systemische Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunikation. In: K. Gilgenmann, D. Mersch, A. K Treml: Kulturelle Vererbung: Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht. BoD, Norderstedt 2010, S. 47-90
  3. M. Bunge, M. Mahner: Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft, Stuttgart 2004
  4. M. Bunge, M. Mahner: Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft, Stuttgart 2004, S. 78ff.
  5. Franz M. Wuketits: Was ist Soziobiologie? München 2002, S. 35f.
  6. Eckart Voland: Grundriss der Soziobiologie. Heidelberg 2000, S. 1
  7. Vgl. Ulrich Kutschera: Evolutionsbiologie. Stuttgart 2008, S. 66
  8. 8,0 8,1 Richard Dawkins: Das egoistische Gen. (Jubiläumsausgabe) München 2007
  9. Eva Jablonka, Marion J. Lamb: Evolution in Four Dimensions: Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in the History of Life Cambridge 2006
  10. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt 1997; Elias beschreibt Zivilisation mit der "prozesshaften Ausbildung individueller Selbstregulierung trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse".
    Vgl. Hermann Korte: Soziologie. Konstanz 2004, S. 126
  11. Vgl. de:Maximenethik, Moralphilosophie und de:Kategorischer Imperativ nach de:Immanuel Kant.
  12. Peter Mersch: Systemische Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunikation. In: Gilgenmann/Mersch/Treml: Kulturelle Vererbung: Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht, Norderstedt 2010, S. 75ff.
  13. Eckart Voland: Grundriss der Soziobiologie. Heidelberg/Berlin 2000, S. 1
  14. Richard Dawkins: Das egoistische Gen. (Jubiläumsausgabe) München 2007, S. 209f.
  15. Daniel R. Jr. Vining: Social versus Reproductive Success: The Central Theoretical Problem of Human Sociobiology. In: Behavioral and Brain Sciences 9, 1986, S. 167-216
  16. Herwig Birg: Das demographisch-ökonomische Paradoxon. Schöningh Paderborn 2004
  17. vgl. R. Dawkins: Das egoistische Gen. (Jubiläumsausgabe) München 2007, S. 209f.
  18. Susan Blackmore: Die Macht der Meme. Oder die Evolution von Kultur und Geist. Heidelberg 2005
  19. Richard Dawkins: Das egoistische Gen. (Jubiläumsausgabe) München 2007, S. 316f.
  20. Richard Dawkins: Das egoistische Gen. (Jubiläumsausgabe) München 2007, S. 321
  21. Bunge/Mahner: Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Stuttgart 2004, S. 111ff.
  22. Vgl. Peter Mersch: Systemische Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunikation. In: Gilgenmann/Mersch/Treml: Kulturelle Vererbung: Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht. BoD, Norderstedt 2010, S. 84ff.
  23. Peter Mersch: Systemische Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunikation. In: Gilgenmann/Mersch/Treml: Kulturelle Vererbung: Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht. BoD, Norderstedt 2010, S. 78ff.
  24. Peter Mersch: Evolution, Zivilisation und Verschwendung: Über den Ursprung von Allem. BoD, Norderstedt 2008, S. 179ff.
  25. Peter Mersch: Evolution, Zivilisation und Verschwendung: Über den Ursprung von Allem. BoD, Norderstedt 2008, S. 165ff.
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