Akademisches Proletariat
Der umgangssprachliche Begriff „akademisches Proletariat“ ist ein politisches Schlagwort und wird traditionell in verschiedensten Zusammenhängen zur Bezeichnung einer tatsächlichen oder auch lediglich subjektiv als solcher wahrgenommenen „Unterschicht“ in der Bevölkerungsgruppe der Akademiker oder Studenten verwendet. Die dabei angelegten Kriterien können sowohl wirtschaftlicher als auch fachlicher Natur sein. Der Terminus ist unscharf definiert, besitzt eine pejorative Konnotation und dient oft als Kampfbegriff in politischen oder ideologischen Debatten.
Inhaltsverzeichnis
[Verbergen]Marxismus[Bearbeiten]
Der Begriff des Proletariats bei Marx umfasst jedoch neben dem sogenannten Lumpenproletariat auch diesen Unterbegriff. Die grundsätzliche Definition des Proletariats durch Karl Marx umfasst alle, die mangels eigener, gesellschaftlich konkurrenzfähiger Produktionsmittel dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft verkaufen. Damit sind, neben den früher vorherrschenden Arbeitern, auch alle Angestellten, Beamten, Arbeitslosen und Akademiker, also heute nahezu die gesamte Bevölkerung, ebenfalls Proletarier. Hauptmerkmal der Proletarier ist, dass sie ihren Lebensunterhalt mit unselbstständiger Lohnarbeit verdienen müssen.
Im deutschen Kaiserreich[Bearbeiten]
Die Bildungsexpansion im Deutsches Kaiserreich ermöglichte zunehmend Kindern aus einfacheren Schichten die Aufnahme eines Studiums. Das neu entstandene Bildungsbürgertum wurde von den alten Eliten als Bedrohung der eigenen Stellung wahrgenommen. In der Presse der damaligen Zeit wurde das Schlagwort "Akademisches Proletariat" oder "gebildetes Proletariat" vielfach genutzt, um die Soziale Mobilität dieser Studenten zu kritisieren. Vielfach war das Schlagwort auch antisemitisch konnotiert, da der Aufstieg durch Bildung ein wesentliches Instrument der Judenemanzipation war. Die Analologe zum Arbeiter-Proletariat wurde darin gesehen, dass diesen Studenten - mangels Einkommen und Vermögen - ein standesgemäßes Leben als Student nicht möglich sei.[1]
Akademikerarbeitslosigkeit[Bearbeiten]
Das Schlagwort "Akademisches Proletariat" wird auch zu Kritik der Akademikerarbeitslosigkeit verwendet. Trotz abgeschlossenem Studiums ist ein Teil der Akademiker arbeitslos oder unterhalb der eigenen Qualifikation beschäftigt.[2]. Plakativ wird oft das Bild des "taxifahrenden Akademikers" verwendet. In diesem Zusammenhang werden meist Absolventen Geisteswissenschaftlicher Studiengänge genannt. In der Praxis stellen taxifahrende Akademiker jedoch eine seltene Erscheinung dar.[3] Die Akademikerarbeitslosigkeit ist in Deutschland ist -verglichen mit der Arbeitslosigkeit von Nichtakademikern- deutlich niedriger. Auch ist das Einkommen der Akademiker statistisch deutlich höher als das der Nichtakademiker. Von einem "Akademischen Proletariat" zu sprechen ist daher von der Statistik nicht gedeckt.[4]
"Akademikerschwemme"[Bearbeiten]
Das Schlagwort "Akademisches Proletariat" wird in Deutschland auch dazu verwendet, von einer "Akademikerschwemme" oder "Überakademisierung" zu warnen. Im Rahmen der Bildungsexpansium stieg der Anteil der Studenten von 4 % eines Jahrgangs Anfang des 20. Jahrhunderts auf 36 % (2005). Der Nutzen dieser Entwicklung wird teilweise bestritten. Es sei für die Gesellschaft nützlicher, junge Menschen im Rahmen der Dualen Ausbildung für Berufe zu qualifizieren, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden, als immer mehr Menschen studieren zu lassen. Diese Überakademisierung führe einerseits zu einem Fachkräftemangel und auf der anderen Seite zu einem "Akademisches Proletariat". So kritisierte Walter Boehlich 1946 in seiner Glosse "Akademisches Proletariat" ein Übermaß an akademischer Bildung. [5] Nachdem sich der Arbeitsmarkt aufnahmebereit für die zusätzlichen Akademiker gezeigt hatte, reduzierte sich die "Proletarisierungshypothese" und wurde durch die "Verdrängungshypothese" ersetzt, nach der Akademiker nun Arbeiten übernehmen würden, die vorher von Nicht-Akademikern ausgeführt worden waren.[6]
Andere Verwendungen[Bearbeiten]
Typische Verwendungsbeispiele sind u.a.:
- Die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die westlichen Besatzungszonen strömenden Akademiker, für welche seinerzeit ein eklatanter Mangel an adäquaten Arbeitsplätzen prognostiziert wurde.
- Geisteswissenschaftler, durch Gruppierungen, die ihnen mangelnden volkswirtschaftlichen Nutzen und geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt unterstellen.
- Lehrer, mit der Unterstellung, dass es „für ein vollwertiges Fachstudium wohl nicht gereicht“ habe.
- Akademiker, die sich aufgrund der schlechten Arbeitsmarktlage selbstständig machen, wegen der großen Konkurrenz aber erst nach vielen Jahren einen auskömmlichen Gewinn erwirtschaften und für lange Zeit am Existenzminimum leben (z.B. Rechtsanwälte oder Architekten)
- Absolventen der Fachhochschulen sowie der im Zuge des Bologna-Prozesses in Deutschland neu etablierten Bachelorstudiengänge, mit dem Vorwurf eines „Schmalspurstudiums“.
Je nach Lesart und Zielsetzung der den Begriff verwendenden Gruppierung kann er also nahezu jeden Akademiker bezeichnen, vom Bachelor bis zum Dr. habil., vom Ingenieur bis zum Philosophen. Aufgrund dieser weitgehenden Beliebigkeit ist die Eignung des Terminus zur Verwendung im Rahmen eines seriösen Disputs fraglich. Ungeachtet dessen findet er im Rahmen tagespolitischer Auseinandersetzungen gelegentlich Anwendung, überwiegend mit der Bedeutung „Akademiker, für die kein Bedarf besteht und die daher arbeitslos werden oder sich mit unterqualifizierten Tätigkeiten zufriedengeben müssen“.
Weblinks[Bearbeiten]
- Werner Kindt - Gibt es Wege zur Überwindung der Berufsnot der Akademiker (1951) (PDF-Datei; 55 kB)
- DIE ZEIT - Abiturienten (1968)
- Bundeszentrale für politische Bildung - Hochschulpolitik und die Zukunft der Geisteswissenschaften
- philtrat – Unbeugsame GallierInnen (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive)
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- Hochspringen ↑ Norbert Kampe: Studenten und "Judenfrage" im deutschen Kaiserreich, 1988. ISBN 3-525-35738-9, S. 59, Digitalisat
- Hochspringen ↑ Anton Rauscher: Zukunftsfähige Gesellschaft, ISBN 9783428492947, S. 55, online
- Hochspringen ↑ Mythen der Arbeit - Soziologen müssen Taxi fahren - stimmt's?; in: SPON von 24. Februar 2012, online
- Hochspringen ↑ Gero Lenhardt: Hochschulen in Deutschland und in den USA: Deutsche Hochschulpolitik in der Isolation, 2005, ISBN 9783531148687, S. 47, online
- Hochspringen ↑ Helmut Peitsch, Helen Thein-Peitsch: Walter Boehlich: Kritiker , 2011, ISBN 9783050050867, S. 31, online
- Hochspringen ↑ Tilmann Schweisfurth: Politik, Bürokratie und staatliche Ausbildungsbeihilfen in Deutschland, 2013, ISBN 9783663145684, S. 270, online