Haus Bartleby

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Das Haus Bartleby e.V., Zentrum für Karriereverweigerung, ist eine 2014 gegründete gemeinnützige Organisation mit Sitz in Berlin-Neukölln, die mit provokanten Aktionen und Kritik des neoliberalen Denkens Aufmerksamkeit auf nationaler und internationaler Ebene erlangte. Bisheriger Höhepunkt der Aktivitäten war Das Kapitalismustribunal, das im Mai 2016 in Wien veranstaltet wurde.

Namensgebung[Bearbeiten]

Das Haus Bartleby nennt sich nach der 1853 erschienene Kurzgeschichte Bartleby der Schreiber von Herman Melville, die zuerst im Putnam’s Monthly Magazine veröffentlicht und 1856 in die Piazza Tales aufgenommen wurde. Darin zeigt der Autor die Unsinnigkeiten kapitalistischer Unrechtsproduktion auf, laut den Gründern „ein systematischer Irrtum, der tödlich ist, und dessen gewaltige Umrisse uns allmählich vor Augen stehen. Etwas geht zu Ende. Die Gültigkeit alter Ordnungsvorstellung läuft ab.“[1]

Gründer und Protagonisten[Bearbeiten]

Zu den Gründern des Haus Bartleby e.V. zählen:

Am Projekt beteiligten sich zeitweise auch der Philosoph und Buchautor Patrick Spät und der Dramaturg Hendrik Sodenkamp,[2] sowie als Autoren und Mitwirkende am Kapitalismustribunal zahlreiche Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft.

Die Gründer und Mitglieder verstehen sich als eine freie Assoziation aus Wissenschaftlern, Autoren, Supermarktkassierern, Journalisten, Philosophen, Psychologen und anderen Experten des Alltags. Gemeinsam forschen sie an einem neuen Verständnis von Arbeit und einer gerechteren Vereinbarung in der Wirtschaft. „Als Lobby geben sie dem Unbehagen vieler eine Stimme im öffentlichen Diskurs. Der Thinktank steht in niemandem Dienste und ist keinem Eigentümer, Chef oder sonst einer Institution zu Rechenschaft verpflichtet.“[3]

Programmatik[Bearbeiten]

„Der Kapitalismus ist pleite, wir dienen einem toten System, und das merken auch immer mehr Menschen, auch wenn sich das eher ungerichtet und immer häufiger gewalttätig äußert. Das hat Gründe, eine Ursache und eine Wirkung.“

Haus Bartleby: Geist abschalten – Nein danke!, Oktober 2015[1]

Das Haus Bartleby e.V. propagiert die systematische Karriereverweigerung und begründet dies, wie folgt: „Die vorherrschende Ideologie in der neoliberalen Epoche war doch, dass jeder Chancen habe, dass Aufstieg und Glück quasi geschichtslos und universell erreichbar seien. Man müsse sich halt nur bemühen. Feststellbar ist aber, dass Verarmung, Depression und Burn-Out um sich greifen. Es kommt teils schon zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen mitten in Europa.“[1] Dem sogenannten Wirtschaftswunder der 1950er Jahre müsse, so Alix Fußmann, ein Erkenntniswunder folgen – angetrieben von Muße statt Fleiß: „Keine Angst zu haben und sich sein Leben nicht zur Jobhölle machen zu lassen, ist das Coolste und Revolutionärste, was uns heute möglich ist.“[4] Eines der Schlagworte der Formation lautet „Karriere macht dumm“.[5]

Als die drei Protagonisten zum Elevate Festival nach Graz eingeladen wurden, begründeten sie ihre oppositionelle Auffassung wie folgt:

  • „I strike when the ads client becomes the chief editor.“ (Alix Faßmann)
  • „I strike fighting!“ (Anselm Lenz, der früher Fähnrich zur See war) und
  • „I don’t strike often enough“ (Jörg Petzold).[6]

Das programmatische Manifest der Gruppe stellt das 2014 erschienene Buch der Gründerin Alix Farmann mit dem Titel Arbeit ist nicht unser Leben dar.[7] Der Untertitel lautet „Anleitung zur Karriereverweigerung“, das Buch wurde vielen großen deutschen Medien besprochen und als prototypische Haltung der Generation Y bezeichnet.[4][8]

Auftritte[Bearbeiten]

Einen ersten vielbeachteten Auftritt absolvierte die Gruppe bei der Internationalen Degrowth-Konferenz 2014 in Leipzig.[9] Ihr Buch Sag alles ab! präsentierte die Gruppe in einem ehemaligen Krematorium von Wedding, dem Silent Green Kulturquartier, Ruth Schneeberger kommentierte in der SZ: „Der Treffpunkt ist schon mal passend.“[10] Beim Elevate Festival in Graz präsentierten sie am 25. Oktober 2015 im Dom im Berg eine Performance mit dem Titel The End of the neoliberal Era.[6]

Das Kapitalismustribunal[Bearbeiten]

Das Kapitalismustribunal
Wien, Mai 2016
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Tag 7:
Emergenz und die Gärten des Rechts

Das Kapitalismustribunal fand im Mai 2016 in Form einer Gerichtsverhandlung im brut Wien statt, in welcher reale Fälle der Diskriminierung, der Herabwürdigung und des Ausschlusses öffentlich verhandelt wurden[11]. Eine der Richterinnen des Tribunals, Ingrid Gilcher-Holtey, verortete in der Passagen-Vorabpublikation diese Veranstaltung historisch: „Auf der Bühne erprobt, war das Konzept des ›eingreifenden Denkens‹ für Brecht keineswegs auf das Theater beschränkt, sondern auf alle wissenschaftlichen, politischen und künstlerischen Gebiete übertragbar.“[12] In der ersten Begleitpublikation des Passagen Verlags kam einer Reihe namhafter Kapitalismus-Kritiker zu Wort, darunter: Alain Badiou, Ingrid Gilcher-Holtey, David Graeber, Alon Harel, Volker Lösch, Graeme Maxton, Achille Mbembe, Hans-Peter Müller, Batseba Ndiyae, Wolfgang Nešković, Guillaume Paoli, Jörg Petzold, Angela Richter, Saskia Sassen, Nis-Momme Stockmann, Fetewei Tarekegn und Ilija Trojanow.

Mehrere Vorverhandlungen fanden im Heimathafen Neukölln im Lauf des Jahres 2015 statt.[13] Am 2. Dezember 2015 wurde im Haus der Kulturen der Welt der Berliner Gipfel zur Prozessordnung für das Tribunal abgehalten.[14] Eröffnungsredner in Wien war der Wiener Autor Robert Misik, es sprachen auch Vertreter des Haus Bartley e.V., Lili Fuhr von der Heinrich-Böll-Stiftung, die das Projekt unterstützte, sowie Alex Stefes und Graeme Maxton vom Thinktank Club of Rome.[15]

Der Standard beschrieb einen der Verhandlungstage des Tribunals wie folgt: „Behandelt wurden unter „Arbeit im Kapitalismus“ gezählte 24 Anklagen – eine Auswahl von bisher 405 eingegangenen. Die Klagen können auf capitalismtribunal.org anonym eingereicht werden und sind dort gesammelt nachzulesen. Am Donnerstag richteten sie sich etwa gegen „die Ideologie“ der kapitalistischen Selbstausbeutung. Oder wiederholt gegen die Bundesagentur für Arbeit, das deutsche Gegenstück zum österreichischen AMS: vor allem wegen Demütigung der Arbeitsuchenden und Ausbeutung von Geringverdienern. Ebenfalls wiederholt wurden die Zerstörung des Gesundheitssystems, das Hartz-IV-System und die Privatisierung der Altenpflege angeklagt. Grundsätzlich ging es um die Ausbeutung der Arbeitenden als „Humankapital“, konkret auch einmal gegen Ex-Sozialminister Rudolf Hundstorfer. Die Verteidigung konstatierte häufig „bedauerliche Einzelfälle" und „Missmanagement“ im speziellen Fall. Die Anklage blieb überwiegend sachlich, Nešković leitete die Verhandlungen souverän.“[16]

Die Urteilsverkündungen sind für November 2016 geplant, in der ersten Jahreshälfte 2017 soll der Nachfolgeband Wiener Deklaration: Was in einer künftigen Ökonomie nie wieder geschehen darf - Verfassung der Ökonomie für die Menschheit erscheinen, ebenfalls im Passagen Verlag.[12]

Weblinks[Bearbeiten]

Buchpublikationen[Bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. 1,0 1,1 1,2 N21 Press: Zentrum für Karriereverweigerer: Geist abschalten Nein danke!, 2. Oktober 2015, abgerufen am 9. Mai 2016.
  2. N21 Press: Ist der Kapitalismus ein Verbrechen?, 12. September 2015, abgerufen am 10. Mai 2016.
  3. Better Place: Haus Bartleby e.V., abgerufen am 10. Mai 2016.
  4. 4,0 4,1 Tobias Becker: Karriereverweigerer – Sie möchte lieber nicht, Der Spiegel, 22. Januar 2015, abgerufen am 10. Mai 2016.
  5. Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation: Karriereverweigerungszentrum Haus Bartleby, abgerufen am 10. Mai 2016.
  6. 6,0 6,1 Elevate Festival Graz: Haus Bartleby, abgerufen am 10. Mai 2016.
  7. Alix Faßmann: Arbeit ist nicht unser Leben, Köln: Lübbe Paperback, 2014
  8. Gesa Schölgens: So klappt die Karriere-Verweigerung, Frankfurter Rundschau, 12. September 2014, abgerufen am 10. Mai 2016.
  9. degrowth conference Leipzig 2014: Contributors: Faßmann, Alix (Haus Bartleby, Zentrum für Karriereverweigerung), abgerufen am 10. Mai 2016.
  10. Ruth Schneeberger: "Der Kapitalismus ist pleite, wir dienen einem Toten", Süddeutsche Zeitung (München), 21. September 2015, abgreifen am 10. Mai 2016.
  11. Lukas Tagwerker: Kapitalismus auf der Anklagebank, FM4, 2. Mai 2015 [Vorankündigung], abgerufen am 10. Mai 2016.
  12. 12,0 12,1 Passagen Verlag: [Vorankündigung]: „Das Kapitalismustribunal“, ab 25. April 2016 im Passagen Verlag, abgerufen am 10. Mai 2016.
  13. Heimathafen Neukölln: Zweite Vorverhandlung: Ist Großeigentum Diebstahl, 18. Juli 2015,abgerufen am 10. Mai 2016.
  14. Haus der Kulturen der Welt: Das Kapitalismustribunal – Berliner Gipfel zur Prozessordnung, abgerufen am 10. Mai 2016.
  15. Marie-Thérèse Mürling: "Kapitalismustribunal" im Wiener brut, Ö1 Kulturjournal, 2. Mai 2016, abgerufen am 10. Mai 2016.
  16. Helmut Ploebst: Brut: Fiktiver Prozess gegen reale Ausbeutung, Der Standard, 6. Mai 2016, abgerufen am 10. Mai 2016.
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