Topologischer Strukturalismus
Der topologische Strukturalismus ist eine Bedeutungstheorie, welche die strukturalistische Grundauffassung von Bedeutung mit einem naturalistischen Erklärungsansatz in Einklang zu bringen versucht.
Strukturalistische Bedeutungstheorien konstatieren die Struktur zwischen bedeutungstragenden Konstituenten (Symbolen oder Zeichen) oder zwischen subsymbolischen Konstituenten (Aktionspotentiale in Nervensystemen, Elementarteilchen in der Physik) als bedeutungskonstitutiv (siehe Abgrenzung zum klassischen Strukturalismus!). Je nachdem, von welcher Art die Relationen sind, die diese Struktur bilden, werden strukturalistische Bedeutungstheorien weiter klassifiziert. So konstituieren gemäß dem differentiellen Strukturalismus Unterschiede (semantische Differenzen) zwischen Zeichen deren Bedeutung, gemäß dem inferentiellen Strukturalismus konstituieren Schlussfolgerungsregeln (Inferenzen) zwischen Ausdrücken deren Bedeutung und gemäß dem topologischen Strukturalismus sind es topologische Strukturen auf der Menge der Konstituenten die bedeutungstragende Entitäten als Verdichtungen innerhalb der topologischen Struktur zum Vorschein bringen. Als neuere Vertreter des topologischen Strukturalismus sind Thomas Ludwig und Alexander Sinsel zu nennen[1]. Implizit wird der topologische Strukturalismus bereits bei Carl Friedrich von Weizsäcker [2] und durch Christoph von der Malsburg[3][4] vertreten. Als eine grundlegende und allgemeine Bedeutungstheorie beschränkt sich der topologische Strukturalismus nicht auf die Semantik von Zeichen oder sprachlichen Ausdrücken, sondern versucht darüber hinaus ebenso die Bedeutung von Wahrnehmungs- und Bewusstseinsinhalten auf neurowissenschaftlicher Grundlage zu erklären.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Abgrenzung zum klassischen Strukturalismus
- 2 Die aus symmetrischen Wechselwirkungen induzierte topologische Struktur
- 3 Objektbezug und empirischer Gehalt von Konzepten
- 4 Der topologische Strukturalismus in den Neurowissenschaften
- 5 Technische Anwendung beim Systementwurf
- 6 Siehe auch
- 7 Literatur
- 8 Einzelnachweise
- 9 Wikilinks - Wikis & Websites mit Artikeln zum Thema
- 10 Social Networks
Abgrenzung zum klassischen Strukturalismus[Bearbeiten]
Dem Strukturalismus zufolge kann die Bedeutung isolierter Zeichen nicht durch eine unmittelbare referentielle Beziehung zu Gegenstände der Welt erklärt werden. Mit der Annahme, dass die abgeschlossene Betrachtung eines einzelnen Zeichens weder eine inhärente Bedeutung noch einen intrinsischen Verweis auf dessen Extension aufzudecken vermag, positioniert sich der Strukturalismus als Gegensatz zum Repräsentationalismus, wie er beispielsweise in Jerry A. Fodors Sprache des Geistes (language of thought) prominent wurde[5]. Stattdessen werden allein die zwischen den Zeichen oder Ausdrücken einer Sprache bestehenden Relationen als bedeutungskonstitutiv erachtet, d. h. Bedeutung wird erst durch jene Relationen "konstituiert". Beispielsweise erklärt eine strukturale Bedeutungstheorie den semantischen Gehalt der Zahl 4 dadurch, dass algebraischen Strukturen, wie die Addition und Multiplikation über der Menge der reellen Zahlen, existieren und die Bedeutung der Zahl 4 erst daraus folgt, dass sie die Summe von 3 und 1 ist sowie die Hälfte von 8 usw.
Die Vertreter eines Strukturalismus sehen eine explanatorische Überlegenheit gegenüber dem Repräsentationalismus insbesondere darin, dass letzterer die Individuation distinkter Entitäten nicht zu erklären vermag. Der Strukturalismus erklärt diese hingegen durch deren spezifische Positionen innerhalb des aus der Gesamtheit aller bedeutungskonstituierenden Relationen gewobenen semantischen Netzes. Der klassische Strukturalismus spezifiziert solche Relationen zwischen Zeichen in seiner differentiellen Variante durch die Differenz eines Zeichens zu anderen Zeichen[6][7], in seiner inferentiellen Variante durch Schlussfolgerungsregeln (Inferenzregeln)[8]. Dabei wird die bedeutungskonstituierende differentielle oder inferentielle Struktur ontologisch jedoch als intelligible Entität oder lediglich als methodologische Fiktion (wie bei Umberto Eco[9]) aufgefasst. Eine Schwierigkeit besteht darin, den empirischen Gehalt solcher intelligiblen Strukturen zu erklären [10].
Um Bedeutung auch im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Erklärungsmodells zu beleuchten und einer bedeutungskonstituierenden Struktur überhaupt einen empirischen Gehalt zuweisen zu können, muss eine solche durch ihre Wirkung ausgewiesen und die entsprechenden Wirkungsmechanismen müssen erklärt werden [2]. Der topologische Strukturalismus leitet die bedeutungskonstituierende Struktur daher unmittelbar aus der physikalischen Wirkung ab, die in der Veränderung dynamischer Variablen zum Ausdruck kommt. Die aus den Wechselwirkungen zwischen den Konstituenten eines dynamischen Systems induzierte topologisch Struktur wird dabei als bedeutungskonstitutiv erachtet. Eine in dieser Weise in der physikalischen Wirkung begründete Bedeutungstheorie ist strukturalistisch, da sie der aus den Wechselwirkungen induzierten topologischen Struktur eine bedeutungskonstitutive Relevanz zuspricht. Im Gegensatz zum klassischen Strukturalismus werden einzelne Konstituenten jedoch nicht als Symbole oder Zeichen interpretiert. Zeichen werden stattdessen erst als Verdichtungen der Konstituenten innerhalb der aus den Wechselwirkungen induzierten Topologie individuierbar und semantisch bewertbar. Ferner ist der topologische Strukturalismus im Gegensatz zum inferentialistischen Strukturalismus kein semantischer Holismus, da die Identität derartiger Verdichtungen nur geringfügig von jeder einzelnen der anderen Konstituenten abhängig ist.
Die aus symmetrischen Wechselwirkungen induzierte topologische Struktur[Bearbeiten]
Gemäß dem physikalischen Wechselwirkungsprinzip actio est reactio sind alle elementaren Wechselwirkungen symmetrisch, so dass aus diesen ein Distanzmaß für die Konstituenten eines komplexen Systems abgeleitet werden kann. Wie aus den in physikalischer Weise quantifizierten Wechselwirkungen zwischen zwei Konstituenten durch eine auf (0;∞) streng monoton fallende und beschränkte Funktion ein Distanzmaß definiert werden kann, ist in der Abbildung rechts dargestellt. Obgleich die spezielle Wahl einer solchen Funktion eine gewisse Willkür erlaubt, sind doch alle derart aus den Wechselwirkungen induzierten Topologien zueinander äquivalent, d. h. homöomorph aufeinander abbildbar. Mehr als eine Klasse äquivalenter topologischer Räume kann unter ausschließlicher Bezugnahme auf eine beliebig quantifizierte Wechselwirkung innerhalb eines komplexen Systems nicht induziert und daher aus rein informationstheoretischer, systeminterner Perspektive auch nicht angenommen werden. Bei gegebener Nichtlinearität entspricht die in der Abbildung dargestellte Funktion einer musterbildenden Wechselwirkung, die durch eine lokale Aktivierung sowie eine weitreichende Inhibition gekennzeichnet ist. Mit den entsprechenden Systemparametern verfügt ein durch solche Wechselwirkungen gekennzeichnetes komplexes System über stabile stationäre Zustände, in denen die Maxima der Zustandsvariablen auf deren Verdichtungen innerhalb der aus den Wechselwirkungen induzierten topologischen Struktur fallen. Diese stabilen Zustände instantiieren die Zeichen des komplexen Systems. Inferentielle Strukturen können durch Übergänge zwischen stabilen Zuständen instantiiert werden, wie dies auch in einem Computer der Fall ist. Eine semantische Bewertung und ein empirischen Bezug einzelner Zeichen sind jedoch nur in der bedeutungskonstituierenden topologischen Struktur selbst möglich.
Objektbezug und empirischer Gehalt von Konzepten[Bearbeiten]
Der topologische Strukturalismus erklärt das Entstehen von Bedeutung aus der Dynamik eines komplexen Systems. Bedeutungsinhalte können darum nur in komplexen Systemen hervorgerufen werden, insbesondere müssen alle Konzepte durch ein komplexes System physikalisch instantiiert sein. Der Objektbezug dieser Konzepte besteht in einer mehr oder weniger rudimentären Strukturanalogie zu Gegebenheiten der Welt. Dabei ist sowohl die Semantik des Objekts als auch die des Konzepts strukturell im inneren Wirkungsgeflecht des jeweiligen komplexen Systems instantiiert. Die Entstehung einzelner Konzepte in der Anschauung erfolgt als konzeptuelle Stabilisierung, d. h. als ein graduierter Übergang zu stabileren Präsentationen, die als Verdichtungen innerhalb des aus der Wechselwirkung induzierten topologischen Raumes identifiziert und semantisch bewertet werden können.
Der topologische Strukturalismus in den Neurowissenschaften[Bearbeiten]
In den Neurowissenschaften konnte sich in den vergangenen Jahrzehnten die Theorie durchsetzten, dass sensorische Perzepte oder Bewusstseinsinhalte im Nervensystem durch Ensembles von Neuronen codiert werden, welche sich aus einer kurzzeitigen synchronen Aktivität der beteiligten Neurone temporär konstituieren [3][4]. Die Aktivität einzelner Neurone wird in dieser Theorie als subsymbolische Repräsentation gedeutet. Neurone codieren lediglich primitive Merkmale, die erst durch die zeitlich korrelierte Aktivität einer großen Anzahl von Neuronen zu einer semantisch bewertbaren Objektrepräsentation integriert werden. Die Ensembles entsprechen dabei zeitweiligen Verdichtungen in der aus den Wechselwirkungen zwischen den Neuronen induzierten Topologie und einem darin lokalisierbarem Maximum der durch die Zustandsvariablen beschriebenen neuronalen Aktivität. Die längerfristige synaptische Plastizität, wie sie gemäß der Hebbschen Lernregel erfolgt, erlaubt den Einfluss der Erfahrung auf die Individuation von Objekten zu erklären: Durch Hebbsches Lernen generierte topologische Strukturen innerhalb neuronaler Netze reflektieren die über die Zeit integrierte Korrelation extrinsischer Stimuli.
Technische Anwendung beim Systementwurf[Bearbeiten]
Beim Organic Computing wird versucht, den algorithmischen Entwurf durch einen sogenannten zielorientierten Entwurf zu ersetzen[11]. Dies bedeutet, dass der Entwurf organisch strukturierter Systeme in der Informationstechnologie allein durch die Vorgabe von Zielen erfolgen soll. Dazu muss die Zielvorgabe durch die Gestaltung der Wechselwirkungen in diesen selbst instantiiert werden, sodass das gewünschte Verhalten des Systems selbstorganisiert erfolgt. Wie in [12] dargestellt, werden zu diesem Zweck Ziele als Verdichtungen innerhalb der aus den Wechselwirkungen eines komplexen Systems induzierten topologischen Struktur definiert. Im Hopfield-Netz geschieht diese Zielvorgabe implizit durch die Generalisierung über Beispielmuster während der Lernphase. Am Ende der Lernphase können die Ziele als Attraktoren des Hopfield-Netzes und damit als Verdichtungen innerhalb der aus den symmetrischen Wechselwirkungen im Hopfield-Netz induzierten topologischen Struktur individuiert werden. Beim zielorientierten Entwurf werden Ziele dagegen unmittelbar seitens des Entwickler in den Wechselwirkungen externalisiert, d. h. als Verdichtungen explizit durch die Gestaltung der Wechselwirkungen instantiiert.
Siehe auch[Bearbeiten]
Literatur[Bearbeiten]
- Stephan Günzel (Hrsg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. transskript, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-899427103
- Alexander Sinsel: Organic Computing als Konzept zur Steuerung interagierender Prozesse in verteilten Systemen. Optimus-Verlag, Göttingen 2011, ISBN 978-3941274679
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Alexander Sinsel: Organic Computing als Konzept zur Steuerung interagierender Prozesse in verteilten Systemen. Optimus-Verlag, Göttingen 2011, Abschnitt 4.4, Seite 112 ff.
- ↑ 2,0 2,1 von Weizsäcker, C.F.: Aufbau der Physik. Hanser, 1985
- ↑ 3,0 3,1 v. d. Malsburg, C.: The What and Why of Binding: The Modeler´s Perspective. Neuron, 24(1):95-104, September 1999
- ↑ 4,0 4,1 v. d. Malsburg, C. : The Correlation Theory of Brain Function. Internal Report 81-2, MPI Biophysical Chemistry, 1981. (Online)
- ↑ Fodor, J.: The Language of Thought. 2. Crowell, 1975
- ↑ de Saussure, F.: Cours de linguistique générale. Genf 1915; dt. Übers. Charles Bally: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. De Gruyter, 1967
- ↑ Hjemsleb, L.: Die Sprache. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968
- ↑ Sellars, W.: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes (1956). Hrsg. und übers. von Thomas Blume, Mentis, 1999
- ↑ Eco, U.: La struttura assente, 1968. In der deutschen Übersetzung: Einführung in die Semiotik. Fink, 1972
- ↑ Bertram, G.W. et. alii: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus. Suhrkamp, 2008
- ↑ v. d. Malsburg, C.: The Organic Future of Information Technology. In Würtz, R.P. (Hrsg.): Organic Computing – Understanding Complex Systems. Springer, 2008
- ↑ Alexander Sinsel: Organic Computing als Konzept zur Steuerung interagierender Prozesse in verteilten Systemen. Optimus-Verlag, Göttingen 2011, Kapitel 4.5, Seite 134 ff.
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