Mikrofundierung

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Mikrofundierung ist ein Begriff aus der Volkswirtschaftslehre (VWL). Er bezeichnet das Vorhaben, alle ökonomischen Erkenntnisse primär aus der Mikroökonomik abzuleiten und damit deren Widersprüche zur Makroökonomik aufzulösen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann Mikrofundierung infolge des Keynesianismus, wie er in Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes[1] begründet wurde, eine zentrale Bedeutung. Inzwischen aber gilt Mikrofundierung der VWL als erfolgreich beendetes, oder auch gescheitertes Projekt.

Fragwürdige Zielsetzung[Bearbeiten]

Zwischen der Mikrofundierung der VWL und dem im 20. Jahrhundert gestarteten, längst wieder aufgegebenen Versuch in den Sozialwissenschaften, Soziologie auf Psychologie zu reduzieren, gibt es eine Entsprechung. Beide Vorhaben ergeben sich aus Missverständnissen über die Aufgaben und Zielsetzungen miteinander verknüpfter, aber verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Das Ziel der Mikrofundierung verschwindet aus der VWL, sobald man erkennt, dass Mikroökonomik in ihr oft nichts zu suchen hat, sondern hauptsächlich die Betriebswirtschaftslehre (BWL) betrifft. Die Ableitung makroökonomischer Funktionen aus einzelwirtschaftlichen Zusammenhängen gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Wirtschaftstheorie und stellt im Allgemeinen ein unlösbares Aggregationsproblem dar.[2] Mikrofundierung soll dieses unlösbare Aggregationsproblem umgehen, indem eine Analogie zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Verhaltensgleichungen unterstellt wird.

Bei einer auf Mikroökonomik beruhenden VWL fällt die Kritik der kapitalistischen Marktwirtschaft weg, da sie sich dann mehr von Unternehmensinteressen beeinflussen und leiten lässt. So wie schon Adam Smith die Funktion des Staates auffasste, wird der Staat aber zum politischen Gegenspieler der Unternehmer, wenn volkswirtschaftliche Fragen makroökonomisch behandelt werden. Gegenteilige einzelwirtschaftliche Vorstellungen entstammen früheren merkantilistischen Auffassungen, nach denen ökonomische Probleme z.B. unter Anwendung der im Mittelalter erfundenen doppelten Buchhaltung zu lösen seien.

Merkantilismus-Nostalgie[Bearbeiten]

Mikrofundierung beinhaltet eine Art heimlicher Nostalgie nach dem Kameralismus bzw. Merkantilismus und einer vergangenen Zeit, in der die Ökonomie in sich noch widerspruchsfrei erschien. Die jüngere Theorie der Marktwirtschaft von Adam Smith wird ignoriert und zurückgestellt. Grund dafür dürfte sein, dass der Merkantilismus die Wirtschaftsform absolutistischer Diktaturen war und die soziale Schichtung in einer gottgegebenen Klassengesellschaft unterstützte.

In seiner Abhandlung "Vollbeschäftigungstheorie von Adam Smith" äußert sich Wic Wen zur Mikrofundierung, die hier "Mikrobasierung" genannt wird:

„Jede Behauptung, nach der die Neoklassik Weiterentwicklung der Marktwirtschaftstheorie sei, ist falsch, denn sie erweist sich umgekehrt als Fortsetzung von deren Vorgänger, dem Merkantilismus. Dessen Mikrobasierung der Ökonomie drehte Adam Smith mit der Darstellung einer Makrobasis für die von ihm nur am Rand behandelte, sich nur mit betriebs- und hauswirtschaftlichen Fragen befassende Mikroökonomie um. Würden die "Dozenten" den natürlichen Widerwillen der Studenten gegen eine volkswirtschaftliche Abart von Mikroökonomie ernst nehmen und auf deren Lehre verzichten, also auch auf die gesamte, die Marktwirtschaftstheorie verdrängende so genannte Neoklassik, so bedeutete das einen gewaltigen Fortschritt.“[3]

Selbstaufgabe der Volkswirtschaftslehre[Bearbeiten]

Eine VWL, die auf konsequenter Mikrofundierung beruht, hat entweder nicht wahrgenommen, dass die ursprünglich den Merkantilismus begründende Kameralistik sich im beginnenden 20. Jahrhundert zur BWL weiterentwickelt hatte, oder weil sie mit der kleinteiligeren, mikroökonomischen Betriebspraxis wenig anfangen konnte, oder sich nicht auf BWL reduziert sehen wollte. VWL sollte aber auch dem wirtschaftlichen Fehlverhalten der Unternehmen Einhalt gebieten, deshalb also teilweise mikrofundiert sein.

Eine makroökonomische VWL verwirklicht automatisch Mikrofundierungsziele durch Makrobasierung der Mikroökonomie und hebt beispielsweise die mikroökonomische Arbeitsbewertung und produktionsorientierte Arbeitswerttheorie durch eine abstraktere makroökonomische Grenznutzentheorie auf. Da der Staat Regeln für mikroökonomische Einheiten wie Unternehmen und private Haushalte schafft, erscheint danach die Mikroökonomik makrobasiert. Das ergibt sich so natürlich, dass dazu keine Mikrofundierung nötig ist um Mikroökonomik in die VWL einzuführen. Die Folgen der Mikrofundierung haben viele Volkswirte nicht durchdacht, oder aber sie waren ihr gegenüber immer schon kritisch eingestellt. So meint John Edward King, "Wie wir in Kapitel 5-6 sahen, hat es immer Ökonomen gegeben, die das Mikrofundierungdogma anzweifelten." [4] Kurz danach beschreibt er mit Hinweis auf zwei Nobelpreisträger, den Keynesianer Tobin (1981) und den Keynesgegner Friedman (1976), das allgemeine Misstrauen gegenüber der Mikrofundierung:

„Das Ergebnis, fährt Tobin fort, ist eine 'Trennung zwischen abstrakter akademischer Theorie und der praktischen Makroökonomik', wie sie von Regierungsökonomen und Zentralbänkern praktiziert wird, die, wie Tobin streitbar folgert, wenig oder keinen Nutzen für die angeblich mikrofundierte akademische Theorie finden.
Diese Unterhaltungen enthüllen Zweifel über Mikrofundierung bei einigen der Interviewten. Als Snowdon und Vane ihre Standardfragen an Milton Friedman stellten, enthüllte auch dieser seinen üblichen Mangel an Enthusiasmus darüber.“[5]

So gibt es zwar viele Wünsche, Mikrofundierung zu betreiben, aber die Folgen wirklich durchdacht hatten wohl weder ihre Befürworter, noch die sie ablehnenden Gegner.

Mikrofundierungsverzicht[Bearbeiten]

Es ist die nicht zur VWL gehörende, aber in ihr unterrichtete Mikroökonomik, die sie irreal, widersprüchlich und missverständlich macht. Eine von der BWL abstrahierte makroökonomische VWL ist einfacher verständlich und kann auf mikroökonomische Modelle mit deren fiktiven Annahmen verzichten, um zu falsifizierbaren Theorien zurückzukehren. Insgesamt ist die Mikrofundierung umstritten, da im Gegensatz zu makroökonomischen Theorien bei diesen Fundierungsansätzen die empirische Überprüfung bislang unterblieben ist.[6] Mikrofundierte Modelle gibt es z.B. in der Konjunkturtheorie, aber Versuche wie das Multiplikator-Akzelerator-Modell und deren Sensitivität bezüglich bestimmter Parameterkonstellationen haben schon früh Kritik hervorgerufen, und die dynamischen Profile der erzeugten Zyklen waren aus empirischer Sicht unbefriedigend.[7] Eher mit makroökonomischen als mikrofundierten Modellen muss die VWL nach Lösungsmöglichkeiten für die jetzige Weltwirtschaftskrise suchen. Die in Frage zu stellende wirtschaftspolitische Schuldenbremse beruht auf mikroökonomischen Annahmen, die sinnlos sind, wenn man die finanzwirtschaftliche, makroökonomische Hoheit des Staates bedenkt.

Literatur[Bearbeiten]

  • Edmund S. Phelps: Microeconomic foundations of employment and inflation theory Norton New York 1970.
  • Hans J. Hummel; Karl-Dieter Opp: Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. Eine These, ihr Test und ihre theoretische Bedeutung Braunschweig 1971.
  • Sabine Eicke-Scholz: Mikroökonomische Fundierung keynesianischer Makroökonomie: eine Analyse neuerer Ansätze VVF München 1990, zugl.: München, Univ., Diss., 1990.
  • Maarten C. W. Janssen: Microfoundations: a critical inquiry Routledge, London, 1993.
  • Heike Winter: Die Mikrofundierung der Makroökonomie in neueren keynesianischen Analysen: ein Vergleich zwischen neu- und postkeynesianischen Ansätzen bezüglich ihrer Theorie der Gütermärkte Marburg : Metropolis-Verl., 1997 zugl.: Marburg, Univ., Diss., 1995.
  • Wic Wen: Die Vollbeschäftigungstheorie von Adam Smith falsifizierbarkeit.de 2010.
  • John Edward King: The Microfoundations Delusion: Metaphor and Dogma in the History of Macroeconomics Cheltenham Edward Elgar UK 2012.

Weblinks[Bearbeiten]

Einzelnachweis[Bearbeiten]

  1. Hochspringen John Maynard Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money. Mac Millan, London 1936. (PDF-Ausgabe der ETH Zürich). (Digitalisierte Ausgabe der Visual Library unter: urn:nbn:de:s2w-12174)
  2. Hochspringen Helga Pollak: Wachstumsbedingte Verbrauchsstrukturänderungen und einige ihrer Konsequenzen für die Verbrauchsbesteuerung (= Frankfurter wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Studien. 15, ISSN 0532-6028). Duncker & Humblot, Berlin 1966, S. 23–24, (Zugleich: Frankfurt am Main, Universität, Dissertation, 1965).
  3. Hochspringen Wic Wen: Die Vollbeschäftigungstheorie von Adam Smith Band Ia. S. 125
  4. Hochspringen John Edward King: The Microfoundations Delusion Seite 173.
  5. Hochspringen John Edward King: The Microfoundations Delusion Seite 177.
  6. Hochspringen Ralf Kube: Mikrofundierung der Konjunkturtheorie mittels Simulationsverfahren. Physica-Verlag, Heidelberg 1993, S. 2.
  7. Hochspringen Ralf Kube: Mikrofundierung der Konjunkturtheorie mittels Simulationsverfahren. Physica-Verlag, Heidelberg 1993, S. 1.
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