Der Baum der Erkenntnis (Maturana/Varela)

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Der Baum der Erkenntnis (OT: El árbol del conocimiento) ist der Titel einer 1984 publizierten Untersuchung [1] der chilenischen Biologen, Neurowissenschaftler und Philosophen Humberto Maturana und Francisco Varela über die Entwicklung des Lebens.

Mit ihrem Buchtitel beziehen sich Maturana und Varela – wie das gleichnamige Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. – auf die Genesis des Alten Testaments. Sie bewerten jedoch den Sündenfall neu: Indem Adam und Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis aßen, wurden sie in andere Wesen verwandelt, die nicht mehr zu ihrer ursprünglichen Unschuld ("bloßes Kennen") zurückkehren konnten und nun „wussten, dass sie wussten“.[2]

Der Baum der Erkenntnis[Bearbeiten]

Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.

Francisco Varela hat gemeinsam mit seinem Lehrer und Kollegen Humberto Maturana die biologische Geschichte des Lebens seit Entstehung der Welt nachgezeichnet und neu akzentuiert (und dies durch entsprechende Begriffsbildungen ausgedrückt): So tritt der Aspekt des Lebenskampfes bei der Auslese zurück. Dieser belastete Begriff wird ersetzt und neu definiert: Das natürliche Driften der Lebewesen [3]. In den Vordergrund stellen die Autoren Prozesse der Interaktion mit dem Milieu, als Umgebung mit eigener struktureller Dynamik [4], in denen nach ihrer Auffassung die Prinzipien des Lebens und seiner Entwicklung zum Ausdruck kommen. In diesem Zusammenhang legen sie auch den Terminus Determiniertheit neu fest: Die Struktur des Lebewesens determiniert, wie es verändert (perturbiert) wird. Dabei gibt es ihrer Meinung nach keinen Optimierungs-Fortschritt – etwa durch eine Verbesserung in der Anpassungsfähigkeit und der Nutzung der Umwelt [5], sondern eine fortwährende phylogenetische Selektion bei andauernden Strukturkoppelungen.

Ethik der Gemeinschaft[Bearbeiten]

Ausgehend von der Entwicklungsgeschichte – einmal der Arten (Phylogenese) und zweitens der einzelnen Lebewesen (Ontogenese) - und den in diesem Prozess entstandenen sozialen Strukturen postulieren Maturana/Varela ihre Ethik [6]: Ausgangspunkt ist der Akt der Liebe bei der Paarung der Menschen – als Basis für die Sozialisation – und das Angewiesensein auf die Gruppenmitglieder, um als Einzelwesen zu überleben und um die Nachkommenschaft sowie deren Weiterentwicklung zu sichern. D. h.: Priorität hat immer die Gemeinschaft. Darin sehen M/V die Verpflichtung der Menschen zur Akzeptanz Anderer und zur Zusammenarbeit mit ihnen, um in ihrer gemeinsamen Welt weiterexistieren zu können. Sie empfehlen dafür die Mittelwege zwischen verschiedenen perspektivisch begründbaren Auffassungen.[7] Die dazu erforderliche Reflexion und Erkenntnis (auch unseres Nicht-Wissens um das Wissen) beziehe den gesamten Körper [8] mit ein und sei – im Bewusstsein der biologischen und sozialen Struktur des Menschen – effektives Handeln.[9]

Perspektive des Beobachters[Bearbeiten]

Ein zweiter Aspekt bei diesen Darstellungen ist die bewusste Betonung der Perspektive des Beobachters [10], eines Lebewesen[s] in der Sprache, d. h. die Beachtung des kognitiven, rückbezüglichen (rekursiven) Prozesses beim Verstehen der Realität [11], den Maturana/Varela als Ontieren, als subjektgebundenes Konzipieren eines Bildes der Realität bezeichnen. Damit binden sie Philosophie und Kognitionswissenschaften in ihre Interpretation mit ein.[12]: Alles Gesagte ist von jemandem gesagt (Zweiter Kernaphorismus [13]). Die Autoren wollen den Leser von ihrem Baum der Erkenntnis (siehe: Kasten rechts) essen lassen – mit dem Appell: Die "Erkenntnis der Erkenntnis" verpflichte zu "ständiger Wachsamkeit gegenüber der Versuchung der Gewissheit", dass die Welt, die wir sehen, „nicht die Welt ist, sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen.[14]

Natürliches Driften[Bearbeiten]

Die Entwicklung des Lebens geschieht nach M/V ohne Entwurf, ohne Richtungs-Planung (keine lenkende Kraft ist notwendig [15]), allein durch Prüfung (natürliches Driften) von vielfältigen Alternativen (jeder Einzelfall ist das Ergebnis von Zufallsvariationen [5]): Rahmenbedingung des Lebens sei die Geschichte des Sterns [16], die mit molekularer Homogenität beginnt, gefolgt von einem kontinuierlichen komplexen Prozess chemischer Transformationen mit einer Vielfalt molekularer Substanzen (z. B. Kohlenstoffketten), welche die Existenz von Lebewesen ermöglichen [17] und zu den kompliziertesten Formen aus harmonisch verbundenen Teilen führen.[15] In der Entwicklungsgeschichte (Phylogenese und Evolution [18]) treten immer wieder ähnliche Phänomene auf, wie das Grundprinzip der Reproduktion [19] durch Zellteilung [20]: Jeder Entstehungsbeginn eines Lebenszyklus geht auf eine Zelle zurück.[21] Ein anderes Beispiel ist die Erhaltung der Autopoiese und der Anpassung der Lebewesen, in Übereinstimmung mit dem Driften des Milieus.[22]

Die rekursive "Penrose-Treppe" veranschaulicht Rückkoppelungen autopoietischer Systeme, für Maturana und Varela ein Prinzip lebendiger Prozesse, das auch für die Erkenntnis des Einzelnen in der Kommunikation Gültigkeit hat und extreme Positionen der Ich- bzw. Welt-Dominanz zu einem Ausgleich führt.

Autopoiese[Bearbeiten]

Den Begriff alles Lebendigen verbinden M/V mit der autopoietischen (= sich selbst schaffenden) Organisation, die sie am Beispiel einer Zelle aufzeigen und auf mehrzellige Organismen übertragen.[23] Ziel der Evolution ist das Fortbestehen der Art mit Hilfe der Einzelwesen. Voraussetzungen dafür sind sowohl eine autonome Organisation wie eine Anpassung (strukturelle Koppelung) an die Umgebung, allerdings nicht als einseitige Ausführung der Forderungen der Außenwelt: Bei all diesen Prozessen gibt es nicht einen Akteur und die Zielgruppe, sondern wechselseitig sich überlappende Vorgänge: Bereits bei der Reproduktion ist nicht allein die DNS beteiligt, sondern ein ganzes Netzwerk von Interaktionen mit z. B. den Mitochondrien und Membranen in ihrer Gesamtheit.[24] Dieses Zusammenspiel zur Selbsterhaltung besteht aus Geben und Nehmen, wobei die ausgewählten und übernommenen Substanzen zum System passen müssen und von diesem verarbeitet werden. D. h.: Die beteiligten Organe sind in einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechselwirkungen miteinander verbunden. Am Beispiel der Zelle wird dies deutlich [25]: Der Zellstoffwechsel erzeugt Bestandteile, die in das Netz von Transformationen, das sie erzeugte, integriert werden, und bildet einen Rand (Membran [26]), der die Zelle als Einheit konstituiert und selbst wieder an diesem Transformationsprozess durch Operieren beteiligt ist: durch Regulierung des Stoffdurchflusses von außen oder innen. Das bedeutet: es wird nur mit bestimmten Substanzen (wie Natrium- und Calcium-Ionen) interagiert, die zu der Organisation der Zelle und ihrer Struktur passen. Die daraus folgenden Veränderungen in der Zelle werden demnach von ihrer eigenen Struktur als zelluläre Einheit bestimmt. Das führt zu einer Autonomie [27] der Zelle: Sie lebt nach ihren eigenen Gesetzen, ist aber nicht selbst-versorgend, also auf lebensnotwendige Zulieferungen angewiesen, genauso wie die Zulieferer, die nach denselben Gesetzen organisiert sind. Es muss folglich im Überlebensprozess zu einem Ausgleich, zu einer Zusammenarbeit (Symbiose) [28]) kommen.

Autopoietische Systeme zweiter Ordnung[Bearbeiten]

Die autopoietische Organisation findet sich auch bei den Metazellern [29] wie den Menschen. Charakteristisch für Metazeller (autopoietische Systeme zweiter Ordnung mit Bildung von Kolonien und Gesellschaften) ist die Entwicklung eines Nervensystems [30] als integraler Bestandteil eines Organismus. Dadurch wird die strukturelle rekursive Koppelung mit dem Milieu ermöglicht [31]: Das Milieu determiniert dabei nicht die Einheit, sondern löst lediglich Strukturveränderungen in den autopoietischen Einheiten aus. Diese reagieren gezielt – z. B. durch Auswahl und integrierende Verarbeitung – und wirken dadurch ihrerseits auf das Milieu ein: Sturkurveränderungen sind also wechselseitig und rekursiv.[32]

Interneuronales Netzwerk und Erkenntnis[Bearbeiten]

Eine weitere Stufe zur Erkenntnis stellt die Entwicklung des Nervensystems zu einem – motorische und sensorische Zellen verknüpfenden – interneuronalen Netzwerk mit dem Gehirn als Zentrum [33] dar. Dies geschieht in Verbindung mit der Beweglichkeit (Nahrung, Flucht, Fortpflanzung) und der dafür notwendigen sensomotorischen Koordination. Darin sehen M/V die Voraussetzung für Denken, Bewusstsein und Erkenntnis.[34]

Ernst Machs Zeichnung "Innenperspektive" illustriert die solipsistische Sichtweise: die Welt wird als Vorstellung aus der Ich-Bewusstseins-Perspektive interpretiert.

Zwei „Weltbild“-Interpretationen[Bearbeiten]

Maturana und Varela stellen zwei verschiedene Weltbild-Interpretationen einander gegenüber: Die auf der rechten Seite von Ernst Mach illustrierte solipsistische Perspektive ist eine individuelle Konstruktion. Ebenso hängt die Bedeutung konzipierter Begriffe einzig von Bewusstseinszuständen des denkenden Subjekts ab. Das zu diesem konstruktivistischen Gesichtspunkt konträre Modell ist der Repräsentationismus, nach dessen Auffassung das Nervensystem die Gegenstände und Zusammenhänge der Außenwelt (also durch Einholen von Informationen) in Gehirnmodulen abbildet (Repräsentation), speichert und verarbeitet, indem es durch Verhaltensänderung darauf reagiert. Das Milieu determiniert nach dieser Theorie zielgerichtet das Verhalten. M/V [35] beurteilen beide Blinkwinkel als zwei extreme Standorte, die man zusammenführen müsste. Daran wird deutlich, warum sie nicht als Konstruktivisten eingeordnet werden möchten: Die erste Perspektive macht zwar auf die begrenzte Erkenntnisfähigkeit aufmerksam, kann jedoch zu einer spekulativen, von der Alltagswelt abgetrennten Kopf-Philosophie und somit zu absoluter kognitiver Einsamkeit führen. Die zweite Sichtweise impliziert ein monokausales, lineares Erklärungsmodell mit einfachen Ursache/Folge- bzw. Reiz/Reaktion-Ableitungen (z. B. Umwelt → Lebewesen). M/V sehen dagegen die biologischen und sozialen Prozesse als in vielfacher Hinsicht vernetzte Rückkoppelungen an: Das Nervensystem als Teil des Organismus agiert strukturdeterminiert (in autopoietischer Operierung), seine Verhaltenserzeugung wird demnach durch das Milieu nur ausgelöst, aber nicht bestimmt.

Koppelung dritter Ordnung[Bearbeiten]

Die Vielzahl miteinander vernetzter Kreisläufe weist eine operationale Geschlossenheit [36] auf, die für die Erhaltung der Organisation als Ganzes – in dem Bestreben, die Subsysteme im Gleichgewicht zu halten – wesentlich ist. Im Laufe dieses Prozesses entwickelten sich bei den sozialen Wirbeltieren [37] differenzierte Gesellschaftssysteme als Koppelung dritter Ordnung [38] im Zusammenhang mit dem Ausbau der sprachlichen Kommunikationsmittel [39], die wiederum Selbstbewusstsein und Reflexionen sowie kulturelle Verhaltensweisen förderten.[40] Sprache entsteht nach M/V [41] nicht in einem einheitlichen Entwurf (ist kein Bestandteil des Gehirns), sondern durch Koordination von Handlungen im sozialen Kontext (ist Teil des Milieus), der als Reich der Sprache bezeichnet wird (siehe auch Kritik von Seiten der Kognitionsforschung): Unser gemeinsames "In-der-Sprache-Sein[-] ist das, was wir als Bewusstsein oder als ‚unseren Geist’ und ‚unser Ich’ erfahren“.[42] Damit spannen M/V den Bogen zum Appell an den Leser, die oben definierte Ethik im Sinn des ersten Kernaphorismus [13] in Handlung umzusetzen:

Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Maturana, Humberto und Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Deutsche Übersetzung von Kurt Ludewig. Frankfurt 2010. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert.
  2. Maturana, Varela, S. 263ff.
  3. Maturana, Varela, Kp. 5, S. 111.
  4. Maturana, Varela, S. 105.
  5. 5,0 5,1 Maturana, Varela, S. 127.
  6. Maturana, Varela, S. 264, Kp. 10: Der Baum der Erkenntnis,
  7. Maturana, Varela, S. 259.
  8. Maturana, Varela, S. 267ff.
  9. s. Maturana, Varela, S. 262ff.
  10. Maturana, Varela, Kp. 1: Das Erkennen erkennen
  11. s. Maturana, Varela, S. 13.
  12. Maturana, Varela, S. 14: Neurofilosofia
  13. 13,0 13,1 Maturana, Varela, S. 32.
  14. s. Maturana, Varela, S. 263ff.
  15. 15,0 15,1 Maturana, Varela, S. 129.
  16. Maturana, Varela, Kp. 2: Die Organisation des Lebendigen
  17. Maturana, Varela, S. 51.
  18. Maturana, Varela, S. 115.
  19. Maturana, Varela, S. 65ff.
  20. Maturana, Varela, Kp. 3: Geschichte: Fortpflanzung und Vererbung
  21. Maturana, Varela, S. 91.
  22. s. Maturana, Varela, S. 113.
  23. Maturana, Varela, S. 35.
  24. s. Maturana, Varela, S. 78.
  25. Maturana, Varela, S. 85ff.
  26. Maturana, Varela, S. 58.
  27. Maturana, Varela, S. 55ff.
  28. Maturana, Varela, S. 99.
  29. Maturana, Varela, Kp. 4: Das Leben der "Metazeller"
  30. Maturana, Varela, S. 96ff.
  31. Maturana, Varela, Kp. 6: Verhaltensbereiche
  32. Maturana, Varela, S. 85.
  33. Maturana, Varela, S. 173ff.
  34. Maturana, Varela, Kp. 7: Nervensystem und Erkenntnis
  35. Maturana, Varela, S. 154ff.
  36. Maturana, Varela, S. 180.
  37. Maturana, Varela, S. 205.
  38. Maturana, Varela, Kp. 8: Die sozialen Phänomene
  39. Maturana, Varela, Naturgeschichte der menschlichen Sprache: 229ff.
  40. Maturana, Varela, Kp. 9 Sprachliche Bereiche und menschliches Bewusstsein
  41. Maturana, Varela, S. 226.
  42. Maturana, Varela, S. 251.
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