Sprachverfall
Das Schlagwort Sprachverfall stammt aus der Sprachkritik und bezeichnet die Befürchtung, dass Sprachen im Laufe der Zeit durch Veränderungen ursprüngliche Eigenheiten verlieren, die als erhaltenswert gesehen werden (z. B. Diversität in Grammatik und Grundwortschatz, Allgemeinverständlichkeit oder Ausdrucksschärfe).[1]
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[Verbergen]Thesen, in denen ein Sprachverfall befürchtet wird[Bearbeiten]
- Möglicherweise werde eine Sprache nicht von kundigen Muttersprachlern, sondern von Menschen gesprochen, die sie schlecht beherrschen und somit nicht pflegen können (vgl. Kreolisierung von Sprachen). Dies könne in einem Ausmaß geschehen, dass es auf die gesamte Weiterentwicklung der Sprache (z. B. den alltäglichen Sprachgebrauch) ausstrahle.
- Zum anderen könne eine Sprache auch dadurch schrittweise verfallen, dass sie vielen Einflüssen aus anderen Sprachen ausgesetzt sei. Dadurch verliere sie ihre ursprünglichen Wurzeln und mutiere zu einer Mischung aus der ursprünglichen Sprache und Einflüssen von außen.
- Ein wesentlicher Grund sei der immer wieder kritisierte Einfluss der Medien, vor allem des Fernsehens und Radios. Fehlerhafte Grammatik wie die angeblich falsche Verwendung des Konjunktivs in der indirekten Rede, flapsiger, vermeintlich lockerer Jargon, unnötige Anglizismen usw. prägten das Gerede der Moderatoren und somit schleichend das der Zuhörer.
- Manche Sprachkritiker sehen Sprachverfall als „Teil eines Globalisierungsprozesses, der die kulturelle Vielfalt“ beseitige.
Thesen, in denen kein Sprachverfall befürchtet wird[Bearbeiten]
- Häufig würden nur Oberflächenphänomene behandelt, also z. B. Lehnwörter, oder Veränderungen in der Flexion und im Satzbau (= Schwerpunkte der schulischen „Systemgrammatik“). Beispielsweise kommt es in der Flexion bei einer Sprache wie dem Deutschen vor allem zu Umschichtungen weg vom synthetischen hin zu einem eher analytischen Sprachbau, so beim Ersatz des deutschen Genitivs durch Konstruktionen mit von plus Dativ: Pauls Buch → das Buch von Paul
Die leichter zu durchschauenden (auch leichter zu bildenden) Strukturen des analytischen Sprachbaus werden von der Sprachpflege dabei als „primitiver“ bezeichnet, doch bleibt das zugrunde liegende Tiefenphänomen, nämlich die Bezeichnung eines Besitzverhältnisses, nach wie vor erfolgreich ausgedrückt (lediglich die Mittel haben sich verändert). - Nach der Sichtweise der Sprachpfleger habe die betroffene Sprache eine so hohe Qualität erreicht, dass jede Veränderung notwendigerweise eine Verschlechterung darstelle. Damit wird jedoch die Geschichtlichkeit von Sprache in Frage gestellt: Alle Sprachen verändern sich, und zwar dauernd, weil sie von der Sprechergemeinschaft der sich ständig verändernden Umwelt angepasst werden.
- Die Befürchtung, eine Sprache entferne sich von ihren Wurzeln, geht davon aus, dass es in einem früheren Sprachstadium „reine“, „unverfälschte“ Sprachen gegeben habe. Diese Meinung übersieht, dass jede Sprache seit jeher mit anderen Sprachen in ständigem Kontakt steht. Es gibt daher keine von fremden Einflüssen „reinen“ Sprachen; jede Sprache ist immer auch eine „Mischsprache“, wobei sich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Kontakte in unterschiedlicher Enge ergeben. Es hat also auch schon früher Veränderungen gegeben, die die Sprache von ihren „Wurzeln“ entfernt haben, nur sind diese einem Kritiker, der nur den gegenwärtigen Sprachzustand im Blickfeld hat, nicht bewusst. Die deutsche Sprache etwa ist während des gesamten Mittelalters stark vom Lateinischen beeinflusst worden; im 17. und 18. Jahrhundert war der französische Einfluss überwältigend, der seit dem 20. Jh. durch den englischen bzw. angloamerikanischen abgelöst wurde.
Ob und wie eine Sprache auf den lebendigen Austausch mit benachbarten oder überregional wirksamen Sprachen (etwa so genannten „Welt-Sprachen“) antwortet, ist hingegen ein Indiz für die Offenheit und Beweglichkeit auch der sie tragenden Sprechergemeinschaft. In vielen Fällen gelingt dabei sogar nach längerem Kontakt mit zunächst „geborgtem“ Sprachgut dessen lautlich-gefühlsmäßige „Eingemeindung“ (z. B. lat. spicarium > dt. Speicher: Eindeutschung), dessen sinngemäße Übertragung in ein neues, klanglich-sinnhaft allgemeinverständlicheres Wort (z. B. frz. rendez-vous > dt. Stelldichein) oder sogar die Nachbildung fremdsprachiger Strukturmöglichkeiten. - Da sich der fremde Einfluss nicht nur im sprachlichen Bereich auswirkt, sondern dieser immer sofort unablösbar mit der Kultur und der sozialen Wirklichkeit verwoben ist und mit diesen interagiert, ist die Rede vom „Sprachverfall“ meist zugleich Kultur- und Gesellschaftskritik.
- Die hiermit einhergehende allgemeine Unzufriedenheit der (Sprach-) Kritiker findet daher oft nur in der Abwehr abgelehnter, neuer Entwicklungen sowie der „Verteidigung“ einer beliebigen früheren „Norm“ ihr Ziel und versäumt dabei die (allerdings viel schwierigere) sprachpflegerische Herausforderung, die in jeder Epoche unvorhersehbaren, neuartigen Möglichkeiten, die andere Sprachen unablässig an die eigene herantragen, schöpferisch für die Prägung bester Begriffe und Vorstellungen oder auch für die bewusste Übernahme anerkannten „Fremd“gutes zu nutzen.
Institut für Deutsche Sprache[Bearbeiten]
Das Institut für Deutsche Sprache (IDS) führte 2013 seine 49. Jahrestagung unter dem Thema Sprachverfall? Dynamik – Wandel – Variation durch.[2] Das Resümee dieser Veranstaltung wurde in der WELT sehr kritisch rezipiert.[3]
Siehe auch[Bearbeiten]
Weblinks[Bearbeiten]

- Der so genannte Sprachverfall, Analyse und Kritik zum Begriff von Prof. Dr. Rudi Keller
- Eine unsäglich scheußliche Sprache: Die westdeutsche Industriegesellschaft verliert ihre Schriftkultur. In: Der Spiegel. Nr. 28, 1984 (online – 9. Juli 1984).
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- Hochspringen ↑ Dankwart Guratzsch: GEGENWARTSDEUTSCH – Das Gefühl des Sprachverfalls trügt nicht, Die Welt vom 22. März 2013
- Hochspringen ↑ IDS: 49. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache. Sprachverfall? Dynamik – Wandel – Variation, 12. - 14. März 2013 Programm
- Hochspringen ↑ Dankwart Guratzsch: Das Gefühl des Sprachverfalls trügt nicht. Die Welt, 22. März 2013