Richtungsstreit der Evangelikalen Bewegung in Deutschland
Der Richtungsstreit der Evangelikalen Bewegung in Deutschland wird zwischen liberalen und konservativen Kreisen innerhalb der Evangelikalen Bewegung und auch innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland ausgetragen. Streitpunkte sind die Auslegung der Bibel, die menschliche Sexualität, speziell die Bewertung von homosexuellen Menschen sowie das Verhältniss zu Mission und Politik.
Inhaltsverzeichnis
[Verbergen]Streitpunkte[Bearbeiten]
Die Steitpunkte entzünden sich an folgenden theologisch und gesellschaftspolitischen Themen. Aufgeführt werden hier zur Verdeutlichung die Extrempositionen, die allerdings nur von den jeweilig radikalen Seiten vertreten werden.
- Wortgetreue Auslegung vs. historisch-kritischer Interpretation der Bibel. Der Streit, ob die Bibel wortwörtlich als Gottes Wort oder die heilige Schrift als historische Quelle zu verstehen ist, in der Widersprüche zugelassen werden können, ist einer der ältesten Streitpunkte.
- Geschlechterrollen: traditionelle Geschlechterrollen vs. aufgelösten Rollenbildern
- Homsexualität: Sünde oder Form der gottgewollten Körperlichkeit des Menschen. Intensiv geführter Streit bis hin zur Pathologisierung von Homosexuellen (Reparativtherapie)
- Kreationismus vs. Evolution als Teil der Schöpfung
- Unbedingter Missionsauftrag vs. Bildungsangebote. Streitpunkte sind ist hier auch die sogenannte Judenmission. In Landeskirchen der EKD mit starken evangelikalen Kräften werden "Bekehrungsversuche" von Juden nicht für unmöglich gehalten.[1]
- Überwindung der Welt vs. Christlichem Tätigsein in die Gesellschaft hinein Strittig ist das dualistisches Verhältnis von nichtevangelikalen Gesellschaft, zur "Welt". Letzere wird häufig durch Begriffe des Unglaubens, Irrglaubens und der Unreinheit negativiert. Durch die Betonung der Bekehrung wird die "Welt" häufig bei ebvagelikalen als biographisch für eine überwundene Lebensphase gesehen, aus der man sich befreit hat. Teile der EKD sehen das Tatchristentum im Vordergrund.
- Bekentniss zu einen Gott und Ablehnung aller anderen Relgionen vs. Bekentniss zu einem Gott, das den Interreligiösen Dialog und Ökumene einschließt. Die Ökumene mit den katholischen und den orthodoxen Kirchen wird von den Evangelikalen zumeist abgelehnt und von der EKD ausdrücklich voran getrieben. Im Interreligiösen Dialog sehen Evangelikale einn Irrglauben.
Entwicklung[Bearbeiten]
Unterschiedliche Reaktionen auf die Studentenbwegung[Bearbeiten]
Die Studentenbwegung hatte auch Auswirkung auf die Evangelikale Bewegung. Während die meisten Gruppen in Opposition gingen bildete sich zum Beispiel mit der Studiengemeinschaft ‚unterwegs‘ in Wuppertal und der Kommunität ‚Christen in der Offensive‘ sozialkritische bibetreue Gruppen innerhalb der Evangelischen Allianz. Die "Offensive junger Christen" entstand während der Studentenunruhen von 1968 als christliche Lebensgemeinschaft, um Möglichkeit christlicher Lebensführung und Alternativen zur marxistischen aber auch der bürgerlichen Lebensweise aufzuzeigen. Die OJC betrieb vielfältige Sozialprogramme in Südamerika, Afrika und Osteuropa. Die Studiengruppe ‚unterwegs‘ entstand 1974 als direkte Reaktion auf die vom evangelikalen Missionskongress von Lausanne beschlossenen Grundsätze. Als libertäre Abspaltung der Studentenmission in Deutschland (SMD) gegründet, wurden ab 1982 eine eigene Gruppe um die Themen Friedenserhaltung, Umweltschutz und „Dritte Welt“ gebildet. Im Rahmen internationaler Solidarität wurden Projekte in Nicaragua und Südafrika unterstützt.
Streit um homosexuelle Pastoren 2012[Bearbeiten]
2012 kündigte die Sächsische Landeskirche einem evangelikalen Jugendevangelisten, der gegen homosexuelle Kollegen mobilgemacht hatte. Die Landeskirche hatte im Frühjahr 2012 einer Regelung eingeführt, nach der die Kirche Pfarrern in „Ausnahmefällen“ erlaubt, gemeinsam mit ihrem gleichgeschlechtlichen Partner im Pfarrhaus zu leben. Verschiedene kirchliche Stellen müssen dem Zusammenleben im Pfarrhaus zustimmen, bevor der Partner oder die Parnerin einziehen darf. Als Reaktion verkündete in einer öffentlichen Erklärung ein „Evangelisationsteam“, den Landesbischof, die Kirchenleitung und die Landessynode nicht länger als geistliche Leitung anzuerkennen. Nachdem der Teamleiter Lutz Scheufler vom sächsischen Landesjugendpfarramt (Dresden) nicht von seiner Position abrückte,seinen Arbeitgeber nicht als solchen anzuerkennen, kündigte ihn dieser. Die Erklärung unterzeichnete jede siebte Gemeinde der Landeskirche Sachsen.[2]
2015 wurde Carsten Rentzing Landesbischof in Sachsen. Er war 2012 einer der Wortführer der sogenannten "Bekenntnisinitiative". Sie lehnte die Öffnung des Pfarrhauses für schwule und lesbische Paare in Sachsen ab.
Streit um das Verhältniss zum Islam[Bearbeiten]
Ranghohe evangelikale Geistliche weisen immer wieder auf die von ihnen so verstandene Unvereinbarkeit von Islam und Christentum hin.
Heinrich Bedford-Strohm, bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatte sich im August 2015 bereit erklärt, im Kuratorium des geplanten „Münchner Forums für Islam“ (MFI) mitzuwirken. Daraufhin brach Entrüstung bei vielen Evangelikalen aus. Der Hamburger Pastor Ulrich Rüß, Vorsitzende der Konferenz Bekennender Gemeinschaften in den evangelischen Kirchen Deutschlands, bezeichnete die Mitwirkung als "Zumutung und nicht hinnehmbar". Bedford-Strohm lasse sich als „Islamversteher“ von Muslimen instrumentalisieren und er verstoße gegen das erste Gebot („Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“). Das Bischofsamt sei damit „beschädigt und diskreditiert“. Weiterhin foderte Rüß, die Landessynode der Evangelischen kirche in Bayern und der Rat der EKD müssten sich Bedford-Strohm distanzieren.
Rüß ist Leiter des "Arbeitskreises Islam" der Deutschen Evangelischen Allianz und er sah in Bedford-Strohms Haltung einen Verrat am christlichen Missionsgedanken. „Die Überzeugung, dass auch Muslime die gute Nachricht brauchen, dass Gott sich in Jesus Christus den Menschen zugewandt hat, spielt im kirchlichen Alltag kaum noch eine Rolle“, sagte er „idea“.[3]
Michael Diener wirbt für Toleranz und Selbstkritik 2015[Bearbeiten]
In einem Gespräch mit der Zeitung Die Welt Mitte Dezember 2015, sprach sich der Vorsitzende der Evangelischen Allianz und Chef des Gnadenauers Gemeinschaftsverbandes Michael Diener dafür aus, die Auseinandersetzungen mit der EKD um Homo-Ehe und Mission zu beenden. Er forderte die Pietisten auf, neben dem festem Glauben auch Selbstkritik zu üben. Die Welt veröffentlichte den Artikel mit dem Titel „Chef der Evangelikalen will Homo-Verdammung stoppen“.[4]
Zuvor hatte die Weltweite Evangelische Allianz (WEA) die kirchliche Entwicklung in Deutschland kritisiert. Generalsekretär Gary Edmonds aus Seattle (USA) sieht in den Beschlüssen von fünf Evangelischen Landeskirchen, die Segnungen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften erlauben, eine Weichenstellung für den künftigen Kurs der deutschen Kirchen. Weiter verweist er darauf, dass evangelikale Dachorganisationen in zahlreichen Ländern für Deutschland und dafür beteten, dass sich die deutschen Evangelikalen in dem theologischen Streit weise verhalten würden. Dies schrieb er an die Deutsche Evangelische Allianz in Stuttgart.[5]
Der Evangelist, Pro-Christ Redner und ehemalige CVJM Chef Ulrich Parzany machte gegen die Positionen Dieners mobil und regte das Netzwerk Bibel und Bekenntnis als ein Zusammenschluss von konservativen Evangelikalen Gemeinschaften in Deutschland an. Siehe dort.
Am 28. Januar 2016 entschuldigte sich Diener. Er bedauerte, dass seine Worte zum Bibelverständnis und zu ethischen Fragen „in der pietistisch-evangelikalen Welt tiefgehende Verwerfungen und Irritationen“ ausgelöst hätten.[6] Gleichzeitig stellten sich mehr als 40 evangelikale und kirchliche Vertreter hinter Diener und seine ursprünglichen Aussagen. Sie verfassten ein Schreiben und riefen darin die Vorstände der evangelikalen Verbände auf, "sich mit aller Kraft hinter Michael Diener zu stellen".[7] Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehörten auch der Greifswalder Bischof Hans-Jürgen Abromeit, der Theologieprofessor Michael Herbst und Hans-Hermann Pompe (Leiter des EKD-Zentrums für Mission in der Region).
Akteure[Bearbeiten]
Evangelische Kirche in Deutschland[Bearbeiten]
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist der Zusammenschluss unterschiedlicher Landeskirchen in Deutschland. Diese kommen aus unterschiedlichen theologischen Traditionen (lutherisch, reformiert oder uniert) und deshalb findet sich ein breites Spektrum theologischer Bewegungen mit liberalen und konservativen Anschauungen innerhalb des Zusammenschlusses.
Die Frauenordination und die Ordination homosexueller Pfarrer sind in allen Landeskirchen der EKD zugelassen. Die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ist gegenwärtig in elf von 20 Landeskirchen der EKD möglich. Voraussetzung ist dass der Ortspfarrer und die Kirchengemeindeleitung einverstanden sind. Dem Kreationismus erteilte die EKD in einer Studie vom April 2008 eine Absage, betonte aber gleichzeitig den Stellenwert des Schöpfungsglaubens im Schulunterricht.
Evangelische Allianz in Deutschland[Bearbeiten]
Die Allianz ist der Zusammenschluss von Gemeinden, Gruppen und Werken mit evangelikaler und pietistischer Theologie. Zu den Theologischen Ansichten der Allianz gehört auch die Betonung des Priestertum aller Gläubigen, das zur Verkündigung des Evangeliums verpflichtet und als Missionsauftrag gilt. Die Mitglieder der evangelischen Allianz vertreten verschiedene Aufassungen in den Streitpunkten, stehen aber größtenteils den den konservativeren Positionen und Haltungen nahe.
"idea" ist der Informationsdienst der Evangelischen Allianz. Er wurde 1970 gegründet als eigenes Medium für evangelikale Berichterstattung, da sich Teile der Evangelikalen nicht vom Evangelischen Pressedienst repräsentiert fühlen.
Aktion "Zeit zum Aufstehen"[Bearbeiten]
Mit einer Aktion “Zeit zum Aufstehen” hatte Parzany evangelikale Kreise in Deutschland und Europa angesprochen um mit einem Zusmamneshcluss ihre Positionen gegen die evangelischen Positionen der EKD besser vertreten zu können. Ziel sind öffentlichkeitswirksame Aktionen und ein "Bekentnisstag" im “Lutherjahr” 2017. Aus der Erklärung leitet sich Parzanys Forderung ab, in der Pfarrerausbildung solle nur noch das Wort Gottes als direkt zu verstehende Offenbrang gelehrt werden. "Die Bibel ist Gottes Wort. Sie ist Urkunde der Offenbarung Gottes. Die historisch-kritische Bibelauslegung wird dieser Tatsache nicht gerecht und ist zu überwinden."[8] Weiter spricht er sich dafür aus, daran festzuhalten," dass die rettende Botschaft von dem Messias Jesus nach wie vor den Juden zuerst gilt.", also für die Judenmission.[9]
Netzwerk "Bibel und Bekentniss"[Bearbeiten]
65 deutsche Evangelikale gründeten am 23. Januar 2016 in Kassel als Reaktion auf die Äußerungen Dieners das Netzwerk Bibel und Bekenntnis.[10] Initiiert und voran getrieben hatte die Gründung das ehemalige Vorstandsmitglied der Allianz, Ulrich Parzany. Er wurde auch zum Vorsitzenden gewählt.
Aus der Gründungsversammlung wurde eine kleinere Gruppe gebildet. Sie soll unter Leitung von Parzany die Anliegen und Haltungen des Netzwerkes tagesaktuell weiterzuführen. Zu der Kerngruppe gehören Sr. Heidi Butzkamm, der Gemeinschaftspastor Martin Grünholz, Tobias Eißler (Pastor), Johannes Holmer, Dirk Scheuermann, Ulrich Rüß sowie Rolf Hille (Professor an der Freien Theologischen Hochschule Gießen und früherer Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz) Rolf Sons (Rektor des Bengelhauses) und Daniel von Wachter (Religionsphilosoph).[11]
Positionen[Bearbeiten]
Die Anwesenden verabschiedeten einstimmig ein Kommuniqué bei der Gründungsversammlung. Darin heißt es „In vielen Gemeinden und Gemeinschaften herrscht Verwirrung und besteht Besorgnis darüber, welchen Kurs führende Repräsentanten der evangelikalen Bewegung steuern. Es fehlt an deutlichem Widerstand gegen Entscheidungen von Kirchenleitungen und Synoden, die Bibel und Bekenntnis widersprechen. Das betrifft aktuell die Segnung und kirchliche Trauung von gleichgeschlechtlichen Paaren, die kirchliche Förderung der Gender-Ideologie und Verlautbarungen zum interreligiösen Dialog.“[12]
Parzany schreibt weiter, dass bestehende bundesweite Bewegungen ihre Integrationskraft verloren hätten. Wir brauchen den entschiedenen Widerstand gegen die Irrlehren, die in den evangelischen Kirchen zum Teil ausdrücklich vertreten und gefördert werden. So sei nicht hinnehmbar, dass die EKD behaupte, biblische Texte könnten aufgrund der historisch-kritischen Forschung nicht mehr wie von den Reformatoren als direktes „Wort Gottes“ verstanden werden.[13]
Evangelikale Linke aus den USA[Bearbeiten]
Währen deutsche Evagelikale sich meist auf konservative Evangelikale und Pfingstler, wie Billy Graham u.a. aus den USA berufen, etablierte sich dort schon in den 1970er-Jahren Gruppen von linksevangelikale Christen u.a. mit Predigern wie Jim Wallis. Ab den 2000er Jahren gewann die so genannte evangelikale Linke (Red-Letter Christians) in den USA immer mehr an Einfluss. Diese Gruppen sind gesellschaftlich offener. Ihre Vertreter setzen sich gegen soziale Ungerechtigkeit und die Macht der Banken ein. Eine wachsende Zahl an Christen in den USA, darunter auch die wachsende linksevangelikale Bewegung in den USA sind Teil von Bewegungen wie Occupy Wall Street u.a.. Diese Positionen werden von der deutschen Evangelikalen Bewegung bisher allerdings nicht aufgenommen und häufig nicht als "evangelikal" in ihrem Verständniss anerkannt.[14]
Weblinks[Bearbeiten]
Publikationen[Bearbeiten]
Zu den Streitfragen[Bearbeiten]
- Darrel R. Falk (Autor), Francis S. Collins (Vorwort), Mark Marzinzik und Kerstin Marzinzik (Übersetzer) (2012): Evolution für Evangelikale: Friedensschluss zwischen Glaube und Biologie ISBN 978-3981552904
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- Hochspringen ↑ http://www.welt.de/politik/deutschland/article148595108/Protestanten-wollen-Verbindendes-mit-Muslimen-suchen.html, gesichtet 30. Jan 2016
- Hochspringen ↑ taz: Homosexualität und Kirche Meuterndem Evangelikalen gekündigt [1], gesichtet 30. Jan 2016
- Hochspringen ↑ Claudia Keller: Evangelikale gegen christliche "Islamversteher". In: tagesspiegel.de. 12. August 2015, abgerufen am 29. Januar 2016.
- Hochspringen ↑ http://www.welt.de/politik/deutschland/article149946122/Chef-der-Evangelikalen-will-Homo-Verdammung-stoppen.html
- Hochspringen ↑ katholisch.net [2], gesichtet am 29. Jan 2016
- Hochspringen ↑ Zitiert nach idea [3], gesichtet am 29. Jan. 2016
- Hochspringen ↑ epd: Evangelikalen-Spitzenmann bedauert "Verwerfungen und Irritationen". In: epd.de. 28. Januar 2016, abgerufen am 29. Januar 2016.
- Hochspringen ↑ Zitiert nach hpd.de:Richtungsstreit unter Evangelikalen? Die Bibel ist Gotteswort![4], gesichtet am 30. Jan 2016
- Hochspringen ↑ Zitiert nach hpd.de:Richtungsstreit unter Evangelikalen? Die Bibel ist Gotteswort![5], gesichtet am 30. Jan 2016
- Hochspringen ↑ epd:Noch keine Klärung im evangelikalen Richtungsstreit in Sicht [6],gesichtete 29. Jan. 2016
- Hochspringen ↑ http://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/kirche/detailansicht/aktuell/netzwerk-bibel-und-bekenntnis-formiert-sich-94762/, gesichtet 29. Jan 2016
- Hochspringen ↑ Zitiert nach idea [7], gesichtet am 29. Jan. 2016
- Hochspringen ↑ epd in Unsere Kirche [8], gesichtet am 29. Jan. 2016
- Hochspringen ↑ jesus.ch: Linke Evangelikale auf dem Vormarsch [9], gesichtet 30. Jan 2016