Psychopathographie Rudolf Steiners
Zu Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, wurden zwei Psychopathographien veröffentlicht. Diese Schriften der Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum (1928) und Wolfgang Treher (1966) nahmen eine Schizophrenie Steiners an; dies jeweils posthum auf Grundlage der Beschäftigung mit Steiners Schriften, Vorträgen und Biographie und ohne eine Anamnese im persönlichen Kontakt.
Schizophrenie-Diagnose[Bearbeiten]
Der Hamburger Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum (1875–1949), der sich neben seiner ärztlichen Tätigkeit in einigen Publikationen mit dem Genie-Begriff befasste, bezeichnete Steiner 1928 als schizophren, da er seine höheren Welten als wirklich erlebt habe. Seine Symptome hätten dem damaligen Sammelbegriff der Paraphrenien, nach Emil Kraepelin (1856–1926), entsprochen, und zwar bezüglich aller drei der wichtigsten Subtypen: expansiva, confabulans und phantastica.[1]
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Wolfgang Treher (geb. 1919) beschrieb in einem erstmals 1966 im Selbstverlag veröffentlichten Buch Ähnlichkeiten zwischen den „Wahnsystemen“ Hitlers, den von ihm attestierten psychiatrischen Symptomen Steiners, den er für kränker als Hitler hielt, und des Senatspräsidenten Daniel Paul Schrebers,[2] die zum Verständnis der Psychopathographie Adolf Hitlers beitragen könnten. Steiners Selbstbezeichnung der Quelle seiner Schriftensammlung Aus der Akasha-Chronik als „lebende Schrift“ entspreche dem „Stimmen hören“ der Schizophrenen.[3] Nach Treher seien in Steiners Schriften bis 1897 keine überzeugenden Hinweise auf eine beginnende Störung zu finden. Der Beginn sei also entweder auf dieses Jahr oder auf den Sommer 1902 zu datieren, als Zeitzeugen eine Wesensveränderung bei ihm beschrieben hätten.[4]
Rezeption[Bearbeiten]
Die Schizophrenie-These wurde in der neueren wissenschaftlichen Literatur zu Steiner und zur Anthroposophie, von zwei Ausnahmen abgesehen, nicht diskutiert.[5]
Der Historiker James Webb (1975)[6] und der Steiner-Biograf Colin Wilson (1985)[7] rezipierten Trehers Studie. Webb bewertete Trehers Darstellung zu Steiner als „detailiert und überzeugend“.[6]
Der Musikwissenschaftler Wolfram Steinbeck urteilte 1971 in einer Rezension zu Trehers Buch über Hegels angebliche Geisteskrankheit: „Mag man Treher zugeben, daß sich dem empirisch diagnostizierenden, vergleichendem Blick des Psychiaters frappante Ähnlichkeiten zwischen Hegel, Hitler, Steiner u. a. ergeben, so wird doch der menschliche Versuch, das Unbedingte anzuschauen, zu denken, zu realisieren, […] nicht mit dem schizophrenen Krankheitsbild identifiziert werden dürfen“.[8]
Der Soziologe und Holocaust-Forscher John Michael Steiner vermerkt 1976, Trehers Versuch, Analogien zwischen den Fällen Hitler, Steiner und Schreber zu ziehen, erscheine eingängig, jedoch nicht wissenschaftlich überzeugend. Er kontrastierte Trehers Versuch mit historischen Aussagen zu Krankenberichten zu Hitler.[9]
Der Literaturtheoretiker Linus Hauser, dessen wissenschaftlicher Schwerpunkt im Feld der Erforschung von „Neomythen“ liegt, bemerkt in einer Fußnote seiner dreibändigen Kritik der neomythischen Vernunft (2004) zu den psychologisierenden Spekulationen Trehers, dass sich in der Parallelisierung auffälliger Denk- und Verhaltensmuster bei Steiner, Schreber und dem deutschen Diktator ein postiver Zugriff auf äquivalente pathologische Denkformen findet.[10]
Der Historiker und Theologe Helmut Zander greift in seiner Steiner-Biografie von 2011 unter Bezug auf Treher die Frage auf, ob Steiner an Schizophrenie litt, verweist aber auch darauf, dass „neuere psycho-medizinische Untersuchungen dazu fehlen“.[11] In seinem Werk Anthroposophie in Deutschland (2007) erwähnt er Trehers Veröffentlichungen am Rande einer Betrachtung von Steiners Mysteriendramen.[12] Zander nimmt bei den Dramen eine Einarbeitung von Steiners Sinnsuche und der Zäsur in seiner Biographie an, die sowohl eine polyvalente (positiv gesagt) als auch eine schizoide Selbstauslegung Steiners (negativ gedeutet) möglich mache. Die polyvalente Deutung wäre eine nähere, noch ausstehende wissenschaftliche Betrachtung der Psyche Steiners analog der bedeutenden psychoanalytischen Studie Kurt Eisslers zu Goethe wert,[13] die schizoide Auslegung (von Treher) hingegen sei bislang nur auf polemische Gegenreaktionen von Anthroposophen getroffen.[12] Der Anthroposoph Frank Hörtreiter kritisierte Trehers Werk über Steiner entsprechend als reichlich abgelegen.[14]
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Wilhelm Lange-Eichbaum: Genie – Irrsinn und Ruhm. Ernst Reinhardt, München 1928 (mehrfach wieder aufgelegt, zuletzt 1986–1996), in 11 Bänden. Band 7: Wilhelm Lange-Eichbaum, Wolfram Kurth: Die Philosophen und Denker, 7. Auflage, Ernst Reinhardt, München 1989, 172 S. ISBN 978-3497011803, S. 146f.
- ↑ Josef Dvorak: Satanismus. Geschichte und Gegenwart. Eichborn, Frankfurt am Main 1989, S. 210.
- ↑ Wolfgang Treher: Hitler, Steiner, Schreber: Gäste aus einer anderen Welt: Die seelischen Strukturen des schizophrenen Prophetenwahns (Erstausg. 1966), 2. Ausg. Emmendingen, Oknos 1990, 384 S. ISBN 3921031001, S. 39-78, bes. 43f, 51f, 60f, 65.
- ↑ Wolfgang Treher: Hitler, Steiner, Schreber: Gäste aus einer anderen Welt: Die seelischen Strukturen des schizophrenen Prophetenwahns (Erstausg. 1966), 2. Ausg. Emmendingen, Oknos 1990, 384 S. ISBN 3921031001, S. 43f.
- ↑ Zum Beispiel nicht in: Cees Leijenhorst: Steiner, Rudolf. In: Wouter J. Hanegraaff (Hrsg.): Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Brill, Leiden/Boston 2005, Bd. 2, S. 1084–1091; und nicht in: Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet. DVA, München 2011.
- ↑ 6,0 6,1 James Webb: The Occult Establishment, La Salle, Ill, Open Court Publishing Company 1975, 535 S. ISBN 0-912050-56-X, S. 493f, 515. Deutsche Übersetzung: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur & Okkultismus im 20. Jahrhundert. Marix, Wiesbaden 2008, 608 S. ISBN 978-3-86539-152-0.
- ↑ Colin Wilson: Rudolf Steiner. The Man and His Vision: An Introduction to the Life and Ideas of the Founder of Anthroposophy, Wellingborough, Northamptonshire, Aquarian Press 1985, 176 S. ISBN 0850303982, S. 130.
- ↑ Wolfram Steinbeck: Wolfgang Treher: Hegels Geisteskrankheit oder das verborgene Gesicht der Geschichte. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Band 25, Nr. 4. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1971, S. 637−643 (S. 640) (online).
- ↑ John Michael Steiner: Power Politics and Social Change in National Socialist Germany: A Process of Escalation Into Mass Destruction. De Gruyter, Berlin 1976, ISBN 978-90-279-7651-2, S. 275; eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche.
- ↑ Linus Hauser: Kritik der neomythischen Vernunft, Bd 1: Menschen als Götter der Erde. Schöningh, Paderborn 2004, ISBN 3506776029, S. 439.
- ↑ Helmut Zander: Rudolf Steiner: Die Biografie. S. 236 f. und 497.
- ↑ 12,0 12,1 Helmut Zander:Anthroposophie in Deutschland: Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945. 2 Bände. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, ISBN 978-3-525-55452-4, S. 1040.
- ↑ Kurt Eissler: Goethe: A psychoanalytic study 1775–1786, dt. Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775–1786. Wayne State University Press, dt. Stroemfeld/Roter Stern,, 1983-85.
- ↑ Frank Hörtreiter: Drei neue Steiner-Biographien, in: Die Drei - Zeitschrift für Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben, Mercurial-Publikationsgesellschaft, Frankfurt am Main, 2/2011, S. 83-86, S. 85, (PDF).