Nahtoderlebnis - prospektive Untersuchung von Pim van Lommel

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Nahtoderfahrungen bei Überlebenden eines Kreislaufstillstandes (engl. Originaltitel: Near-death experience in survivors of cardiac arrest) ist eine prospektive Studie des niederländischen Kardiologen Pim van Lommel, die 2001 in The Lancet veröffentlicht wurde[1] und sich mit Nahtoderfahrungen (NTE) beschäftigt.

Untersuchungsdesign[Bearbeiten]

NTE werden in vielen Krankenhäusern gar nicht oder nur sehr unzureichend dokumentiert[2]. In den Niederlanden wurde daher eine prospektive Langzeit-Untersuchung durchgeführt, in der systematisch alle Patienten erfasst wurden, die klinisch tot waren. Neue Erkenntnisse sollten nicht bestritten, verschwiegen oder der Lächerlichkeit preisgegeben werden, sondern dazu führen, "dass bestehende Theorien erweitert, angepasst oder, wenn nötig, auch verworfen werden."[3]

Retrospektive Untersuchungen[Bearbeiten]

Raymond Moody schrieb 1975: "Leben nach dem Tod", angeregt durch eine NTE von George Ritchie aus dem Jahr 1943. Er verwendet ausschließlich retrospektiv gewonnene Schilderungen. D.h. zwischen der NTE und der Befragung lagen bis zu 20 Jahre. Die Teilnehmer wurden über die Medien gefunden oder meldeten sich freiwillig. Kenneth Ring konnte 1980 die Ergebnisse von Moody bestätigen. Ebenso Bruce Greyson (1983) und Michael Sabom (1982), auch wenn nicht die Einteilung in 12 Elemente übernommen wurde. Ring unterschied 5 Phasen, Sabom drei Haupttypen und Greyson vier Komponenten.[4] Alle Einteilungen sind 'künstlich', da sich die Einzelaspekte der Erfahrungen zwar voneinander abheben, sich aber nicht voneinander trennen lassen, da die Erfahrung kontinuierlich verläuft.[5]

Prospektive Untersuchungen[Bearbeiten]

In den Jahren von 1988 bis 1992 wurden in den kardiologischen Intensivstationen von 6 Krankenhäusern von speziell für NTE-geschultem klinischem Personal alle 344 Patienten, die klinisch tot waren (Bewusstlosigkeit, Herzstillstand, Atemstillstand, Kreislaufzusammenbruch, keine Hirnstammreflexe [6]) auf Erinnerungen an diese Phase befragt. 5 kleinere Krankenhäuser waren für kürzere Zeit beteiligt. Die Untersuchung wurde nach 2 und nach 8 Jahren wiederholt.

Insgesamt wurden 344 Patienten mit insgesamt 509 Reanimationen in die Studie aufgenommen. 73 % waren Männer, 27 % Frauen. 234 Reanimationen erfolgten im Krankenhaus, 190 Patienten davon hatten einen Herzstillstand von weniger als 2 Minuten und erlangten nach weniger als 5 Minuten wieder das Bewusstsein. 110 Reanimationen erfolgten außerhalb des Krankenhauses, davon hatten 88 Patienten einen Herzstillstand von mehr als 2 Minuten und 62 der Patienten erlangten erst nach einem Zeitraum von mehr als 10 Minuten das Bewusstsein. 104 Patienten waren mehr als eine Stunde bewusstlos. 41 Patienten erlitten eine Schädigung des Kurzzeitgedächtnisses.

In der niederländischen Studie wurden nach einer gelungenen Reanimation alle demographischen Daten jedes Patienten (Alter, Geschlecht, Ausbildungsstand, Religion, Vorwissen über NTE, vorhergehende ähnliche Erfahrungen, Furcht vor dem Herzstillstand) und alle medizinischen Daten dokumentiert.[7]

Das erste Interview fand meist nicht mehr als 5 Tage nach der Reanimation statt und bestand aus der Frage: "Können Sie sich an etwas aus der Phase Ihres Herzstillstandes erinnern?"[8] Von den 344 Patienten hatten 18 % eine NTE.

Die aufgetretenen NTE wurden nach einem Verfahren von K. Ring (Weighted Core Experience Index = WCEI) in Bezug auf ihre Tiefe eingeschätzt. Erst ab 10 (von max. 29) Punkten spricht man von einer tiefen, bzw. sehr tiefen NTE.[9]

Durch die weiteren Untersuchungen nach 2 und 8 Jahren konnten bei den noch lebenden Patienten mit NTE (35 bzw. 23 Patienten) auch positive und negative Veränderungen durch die NTE erforscht und mit der zwangsläufig vorhandenen Kontrollgruppe (keine NTE bei gleicher medizinischer Symptomatik) verglichen werden. Alle Befragungen wurden auf Band aufgenommen und anschließend verschriftlicht. Die Befragung umfasste 34 Fragen zum Selbstbild, zur Verbundenheit mit anderen Menschen, zu materiellen und sozialen Themen, zu Religion, Spiritualität und zur Einstellung zum Tod. Die Patienten werteten ihre Antworten in einer 5-Punkte Skala. Alle erhobenen Daten wurden auf statistische Signifikanz (p kleiner gleich 0,05) überprüft.

Untersuchungsergebnisse[Bearbeiten]

Die Einteilung Moodys in 12 Elemente konnte bestätigt werden. Es kommen jedoch nicht immer alle 12 Elemente vor und werden von P.v.Lommel so beschrieben [10]:

  • Das Unaussprechliche
Das Erlebnis einer NTE ist manchmal völlig fremdartig und außerhalb des normalen Erfahrungshorizonts, so dass Probanden Schwierigkeiten haben, die NTE zu beschreiben.
  • Gefühl des Friedens und der Ruhe, Befreiung von Schmerzempfindung
  • Die Erkenntnis, tot zu sein
  • Ein Verlassen des Körpers oder eine außerkörperliche Erfahrung (AKE)
    • Aufenthalt in einem dunklen Raum
    • Tunnelerlebnis
    • Furcht einflößende NTE (selten)
  • Wahrnehmung einer außerweltlichen Umgebung
  • Begegnung und Kommunikation mit Verstorbenen
  • Begegnung mit einem strahlenden Licht oder mit einem Wesen aus Licht, , meist mit dem Gefühl bedingungsloser Liebe und Berührung von umfassenden Wissen und tiefer Weisheit.
  • Lebensschau oder Rückblick
  • Ausblick, Vorschau oder 'flash forward'
  • Das Wahrnehmen einer Grenze
  • Die bewusste Rückkehr in den Körper

Darüber hinaus kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass NTE unabhängig von Alter der Patienten, vom kulturellen und religiösen Hintergrund oder von den medizinischen Ursachen der NTE sind.

Auch die Veränderungsprozesse die nach 2 und 8 Jahren untersucht wurden, deckten sich mit Ergebnissen anderer Forscher (K. Ring, M. Grey, P.M.H. Awater, C. Sutherland, M. Morse, P. und E. Fenwick und K. Ring zusammen mit E. Elsaesser-Valarino und A. Opdebeek) [11], haben aber mehr Gewicht, da hier keine Vorauswahl der Probanden vorgenommen wurde und auch eine Kontrollgruppe aus Patienten mit gleicher medizinischer Problematik, jedoch ohne NTE, bestand.[12]

Pim van Lommel gibt folgenden Überblick über Veränderungen, die von Menschen nach einer NTE berichten: eine größere Selbstakzeptanz und ein verändertes Selbstbild, mehr Mitgefühl für andere, größere Wertschätzung des Lebens, Befreiung von Todesangst und Glaube an ein Leben nach dem Tod, geringere Kirchenbindung bei stärkerer Religiosität, gesteigerte Spiritualität, beträchtliche körperliche Veränderungen und verstärkte intuitive Gefühle (erhöhte intuitive Sensibilität)[13]

Zwar zeigten auch die Befragten Veränderungen, die einen Herzstillstand ohne NTE überlebt hatten, aber erst viel später und in deutlich geringerem Maß.[14]

NTE bei Kindern[Bearbeiten]

Unter den Patienten, die von der niederländischen Studie erfasst wurden, waren auch 12 Kinder, die einen Herzstillstand überlebten. Von diesen berichteten 8 (= 67%) von einer NTE. Inhaltlich sind die NTE von Kindern ähnlich denen von Erwachsenen, enthalten aber weniger Elemente.[15]

Kinder erleben NTE z.B. in einem Koma, ausgelöst von einem Zuckerschock oder einer Gehirnhautentzündung, nach einem Herzstillstand, der durch lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen ausgelöst wird, bei Erstickungszuständen, bei Diphtherie, bei Muskeldystrophie, bei Verschlucken, bei einem lebensgefährlichen Stromschlag, bei einem schweren Verkehrsunfall mit Schädelverletzung oder bei Ertrinken.[16]

1994 hat der am. Kinderarzt Melvin Morse in Seattle eine erste systematische Untersuchung an 121 Kindern innerhalb eines Zeitraumes von 10 Jahren, die schwer erkrankt waren. Keines dieser Kinder hat eine NTE erlebt. Auch der Einfluss von Medikamenten hatte keine NTE zur Folge (es konnten 37 Kinder befragt werden). Es wurden auch 12 Kinder befragt, die einen Herzstillstand oder ein Koma erlebten. Von diesen 12 Kindern berichteten 8 (67 %) von einer NTE. Weitere Untersuchungen berichten von NTE bei Kindern: P.M.H. Atwater (2003)[17] und Kenneth Ring (1992)[18]

Kinder bis 6 Jahre erleben meist keine Rückschau, jedoch kommt es bei Kindern häufiger zu spontanen außerkörperlicher Erfahrungen. Es wird vermutet, dass bis zu 25 % der Kinder das Gefühl haben, sie befänden sich außerhalb ihres Körpers. Auch 22 % der niederländischen Psychologiestudenten berichten von spontanen außerkörperlichen Erfahrungen, 7 % sogar von mehrmaligen Erfahrungen.[19] Kinder erleben dieses Phänomen auch bei sexuellem Missbrauch oder wenn körperlicher Gewalt gegen sie angewendet wird. Dabei wird die außerkörperliche Erfahrung deutlich gegen Dissoziation abgegrenzt.[20]

Weitere prospektive Untersuchungen und Ergebnisse[Bearbeiten]

Schätzungen gehen davon aus, dass in den vergangenen 50 Jahren ca. 25 Millionen Menschen eine NTE erlebt haben. Neuere Studien in Amerika und Deutschland gehen 4,2 % aus.[21]

Seit 2001 gab es vier prospektive Studien mit insgesamt 562 Patienten. Gemeinsame Erkenntnis aus diesen Untersuchungen sind 1. Bei Herzstillstand wird der gleiche Prozentsatz an NTE nachgewiesen, 2. Eine NTE tritt während eines Herzstillstandes auf, 3. Bei diesem fallen alle Gehirnfunktionen aus und 4. Es gibt keine physiologische oder psychologische Erklärung für eine NTE. Die Studien fanden in den Niederlanden (2001), in Amerika (2003), England in 2001 und 2006 statt.[22]

Eine vergleichbare prospektive Studie von Schwaninger et al. ergab, dass 68 % der Menschen sterben, die einen Herzstillstand erleiden. Schwaninger konnte von den 55 überlebenden Patienten nur 30 befragen, da das Interview wegen einer dauerhaften Schädigung des Gehirns nicht stattfinden konnte.[23]

Eine Studie von Parnia und Fenwick nahm 220 Patienten mit Herzstillstand auf, von denen 62 % starben und nur 63 Patienten (28 %) befragt werden konnten.[23]

NTE und Bewusstsein[Bearbeiten]

NTE lassen sich nach den aktuellen Stand der Medizin nicht erklären. Nach bisheriger wissenschaftlicher Auffassung sei es aber "nicht möglich, Bewusstsein zu erfahren, wenn das Herz nicht mehr schlägt." Die niederländische Studie kommt ganz klar zu dem Ergebnis: NTE sind Bewusstseinserfahrungen.[24]

Der Kardiologe Pim von Lommel folgert daraus - im Gegensatz zu dem weit verbreiteten materiellen Wissenschaftsverständnis - dass das Bewusstsein daher kein Produkt des Gehirns sein kann, sondern unabhängig von einem Körper schon vor dessen Geburt und auch nach dessen Tod existiert. Daher könne auch während eines Herzstillstandes eine Bewusstseinserfahrung gemacht und als NTE erinnert werden.

Physiologische und psychologische Theorien für NTE[Bearbeiten]

Die niederländische Studie setzt sich auch kritisch mit bestehenden Auffassungen zu NTE auseinander. Physiologische Theorien (Sauerstoffmangel, zu viel Kohlendioxyd, chemische Reaktionen im Gehirn (Ketamine, Endorphine, Psychodelika), elektrischen Aktivitäten im Gehirn (Epilepsie, Stimulation)), psychologische Theorien (Todesangst, der individuelle Erwartungshorizont in Bezug auf den Tod, Depersonalisation, Dissoziation, Phantasien und Einbildungen, Betrug, Geburtserinnerungen, Halluzinationen, Träume, Verabreichung von Medikamenten). Die Auseinandersetzung mit diesen Erklärungsversuchen "können zwar in unterschiedlichem Maße eine Rolle spielen, sie können das Phänomen NTE aber nicht vollständig erfassen."[25]

Literatur[Bearbeiten]

  • Pim van Lommel (2007): Eindeloos bewustzijn. Een wetenschappelijke visie op de bijna-dood ervaring, Verlag: Uitgeverij Ten Have, deutsch (2009, 2. Auflage): Endloses Bewusstsein, Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, übersetzt von Bärbel Jänicke, Patmosverlag, Düsseldorf, ISBN 978-3-491-36022-8

Weblinks[Bearbeiten]

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. P.v. Lommel u.a.: Near-death experiences in survivors of cardiac arrest: a prospective study in the Netherlands, in: The Lancet 358, S. 2039-2045
  2. Vgl. P.v.Lommel, (2009), S. 35
  3. P.v.Lommel,(2009), S. 20
  4. Vgl. P.v.Lommel: (2009), S. 36-42)
  5. Vgl. P.v.Lommel, (2009), s. 44
  6. P.v.Lommel (2009), S. 170ff. Da wegen der Reanimierung keine Zeit für EEG war, wird aus Tierversuchen belegt, dass durchschnittlich 15 Sekunden nach Herzstillstand auch das EEG eine Null-Linie zeigt.
  7. P.v.Lommel (2009), S. 147f
  8. P.v.Lommel, (2009), S. 148
  9. P.v.Lommel, (2009), S. 43
  10. P.v.Lommel, (2009), S. 44-68
  11. P.v.Lommel, 2009, S. 74
  12. P.v.Lommel, (2009), S. 75f
  13. Vgl. P.v. Lommel: Endloses Bewusstsein, 2009; S 74ff
  14. P.v.Lommel, (2009), S. 95
  15. P.v.Lommel (2009), S. 100-109)
  16. P.v. Lommel: Endloses Bewusstsein, 2009; S. 102f
  17. referiert bei P.v. Lommel: Endloses Bewusstsein, 2009; S.101ff
  18. referiert bei P.V. Lommel: Endloses Bewusstsein, 2009; S. 107
  19. Vgl. P.v. Lommel: Endloses Bewußtsein, 2009; S. 106f
  20. Vgl. P.v. Lommel: Endloses Bewusstsein, 2009; S. 107ff
  21. Pim van Lommel (2007): Eindeloos bewustzijn. Een wetenschappelijke visie op de bijna-dood ervaring, Verlag: Uitgeverij Ten Have, deutsch (2009, 2. Auflage): Endloses Bewusstsein, Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, übersetzt von Bärbel Jänicke, Patmosverlag, Düsseldorf, S. 35 und 143
  22. P.v.Lommel, (2009), S. 165
  23. 23,0 23,1 P.v.Lommel, (2009), S. 146
  24. P.v.Lommel, (2009), S. 11
  25. P.v.Lommel, (2009), S. 142
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