Kirche in der Europäischen Union

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Im Jahr 2017 leben in der Europäischen Union 511,81 Millionen Menschen.[1] Davon nehmen Katholiken mit 48% den größten Teil, Protestanten mit 12%, Angehörige einer anderen christlichen Religion mit 4%, Orthodoxe mit 8%, Moslem mit 2% und Atheisten mit 7% der Bevölkerung innerhalb der EU ein. [2] Innerhalb der Europäischen Union besitzen fünf Kirchenfamilien ihren Hauptsitz: sechs altkatholische, sechs anglikanische, acht orthodoxe, 112 evangelische sowie 23 römisch-katholische Bischofskonferenzen. [3]

Ist die Kirche eine Organisation?[Bearbeiten]

Es ist in der Literatur umstritten, ob Kirchen in den Organisationstypus eingeordnet werden können. Weniger kompliziert ist die rechtliche Einordnung der Kirchen, besonders im Falle des deutschen Rechts. Nach deutschem Staatskirchenrecht wird Kirchen, den Religionsgemeinschaften der Status als Körperschafen des öffentlichen Rechts zuerkannt (Art. 140 GG)[4], wodurch sie sich deutlich von anderen gesellschaftlichen Organisationen abheben. Innerhalb der EU-Mitgliedstaaten unterscheiden sich jedoch die Rechtsformen der Kirchen. Katscher ordnet die Kirchen als Non-Profit-Organisation „mit himmlischem Auftrag“ ein, wobei sie jedoch betont, dass Kirchen soziologisch gesehen Organisationen sind, da diese ein vorgegebenes Ziel sowie formell geregelte Mitgliedschaften, aber auch eine Verfassung die das Handeln der Mitglieder regelt, besitzen.[3] Da das Primärziel der Kirchen jedoch die Verkündung des Evangeliums ist und nicht das Erzielen von Gewinnen als erste Priorität gilt, gelten sie als NPO. Der Zentrale Bezug zu Gott, aber auch, dass die Kirche keine Partikularinteressen besitzt, sieht auch Heidrun Abromeit  als Unterscheidungsmerkmal zu allen anderen gesellschaftlichen Organisationen.[5] Auch Speth schreibt, dass NPOs zwar in Wirtschaftsprozesse eingebunden sind, diese wirtschaftlichen Themen für sie jedoch nicht als zentral angesehen werden. Sie versuchen daher innerhalb der Interessenvertretung diese „nicht-ökonomischen oder moralischen Interessen“ in der Politik und Gesellschaft zur Geltung zu bringen.[6] Daher können Kirchen und kirchliche Organisationen als NPOs im Bereich der Lobbyorganisationen eingeordnet werden, weshalb sie sich, wie sich im Folgenden zeigen wird im Transparenzregister der EU registriert haben.

Die Kirche im Transparenzregister der Europäischen Union[Bearbeiten]

Um Entscheidungsprozesse in der EU offener zu gestalten, können sich Interessenvertreter auf freiwilliger Basis in das Transparenzregister eintragen, um der Öffentlichkeit einen Einblick zu geben, welche Interessen auf EU-Ebene vertreten werden. Des Weiteren kann diesem entnommen werden, wer welche Interessen und in wessen Namen vertritt, sowie welcher finanzielle Rahmen dafür zur Verfügung steht. Derzeit sind 11438 Organisationen (Stand: September 2017) innerhalb des Transparenzregisters registriert, die als Interessenvertreter gelten und mit den EU-Organen interagieren. Neben Beratungsfirmen Nichtregierungsorganisationen, In-House-Lobbyisten, Denkfabriken und Organisationen, die lokale, regionale und kommunale Behörden vertreten, wird innerhalb des Transparenzregisters als 5. Kategorie die Kirche unter „Organisationen, die Kirchen und Religionsgemeinschaften vertreten“ gesetzt. Insgesamt haben sich 51 Organisation unter dieser Kategorie registriert wie zum Beispiel die European Evangelical Alliance (EEA) oder das World Council of Churches (WCC).[7] Da die Eintragung in das Transparenzregister auf freiwilliger Basis beruht, kann nicht genau gesagt werden, wie viele Lobbygruppen bestehen. Tendenziell ist die Anzahl der wirklichen Vertreter in Brüssel höher, als die im Transparenzregister angegebenen.

Kirche und Staat[Bearbeiten]

Die Beziehungen zwischen Politik und Religion, Kirche und Staat weisen je nach Staat individuelle Besonderheiten auf, da diese auf nationale Traditionen sowie auf die Geschichtliche Entwicklung zurückgehen. Besonders in den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten fand ein einschneidender Transformationsprozess statt, da die Pluralisierung von Kirchen und Religionsgemeinschaften dort durch die Nachwirkungen der kommunistischen Herrschaft sowie durch die institutionelle und rechtliche Anpassung an die EU beeinflusst wurde.  Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf europäischer Ebene wurde im Vertrag von Lissabon im sogenannten Kirchenartikel festgehalten. Zuvor herrschte jedoch in der EU jahrzehntelang eine „Religions- und Kirchenblindheit“, in welcher zur Zeiten der Europäischen Gemeinschaft das Augenmerk auf dem Thema Kohle, Stahl und Agrarmärkte gelegt wurde und die Kirchen in den Verträgen keine Erwähnung fanden.[8] Da mit der Zeit die Zuständigkeit der Europäischen Union immer mehr Anwendungsbereich in den Feldern der Kirche fand, wuchs bei den Kirchen die Sorge, dass die fortschreitende europäische Integration und Europäisierung ihren Status beeinträchtigen könnte. [9] Deshalb wurde im Vertrag von Amsterdam 1997 auf Drängen der Kirche hin eine Erklärung aufgenommen, wonach die EU den Status der Kirchen zu achten habe. Diese Amsterdamer Kirchenerklärung wird als großer Fortschritt in der rechtlichen Beziehung zwischen der EU und den Kirchen gesehen, da die Kirchen zum ersten Mal in die Verträge miteinbezogen wurden. Der Kirchenartikel war jedoch lediglich eine politische Absichtserklärung und hatte keinerlei Rechtsverbindlichkeiten, was sich mit dem Vertrag von Lissabon änderte.[10]

Die Europäisierung der Kirche[Bearbeiten]

Im Zuge der Europäisierung entwickelte sich die EU von einer Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur heutigen Werte- und Grundrechtsgemeinschaft. Mit der Entstehung der EU sowie der Europäisierung gab es unterschiedliche Themenbereiche, die auf europäischer Ebene neu festgelegt werden mussten, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren. Diese waren beispielsweise Fragen, wie mit religiösen Symbolen im öffentlichen Raum der EU umgegangen werden solle, sowie auch die Auseinandersetzung um die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften innerhalb des Rechtsgefüges der Europäischen Union. Da dies Themen sind, welche die Religionen direkt betreffen und bei welchen die Auswirkungen in allen Mitgliedsländern deutlich zu spüren sind, wurden die kirchlichen Akteure aktiv. Sie wurden durch die religionspolitische Entwicklung gezwungen, eine aktive Stellung innerhalb des europäischen Willensbildungsprozesses einzunehmen.[11] Hinsichtlich dessen entstanden unterschiedliche Organisationen im Bereich der Kirche, die im Willensbildungsprozess auf EU-Ebene eine aktive Stellung einnahmen sowie die Aufgabe hatten, die mitgliedstaatlichen Ortskirchen über die Politik der EU zu informieren wie zum Beispiel die COMECE, KEK oder GEKE.

Lobbyarbeit der Kirche[Bearbeiten]

Kirchlicher Lobbyismus ist durch den gleichen Handlungsablauf wie der Lobbyismus anderer Interessengruppen, wie der Auto- oder Pharmaindustrie geprägt. Erst, wenn Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, werden Lobbyisten aktiv und vermitteln Interessen. Die Schwierigkeit der Interessenvermittlung besteht darin, dass es beim Transfer der Interessen in das politische System zu Verzerrungen kommt, da nicht alle Interessen in der gleichen Art und Weise vermittelbar oder organisierbar sind. [12] Die Kirchen besitzen eine Strategie, mit welcher sie die relevanten Akteure beeinflussen können. Dazu benötigen sie ein breites Wissen über das europäische Mehrebenensystem, über geplante Rechtsetzungsmaßnahmen sowie über die beteiligten politischen und administrativen Akteure. [3] Die Vertreter versuchen die Entscheidungen und Gesetze, die in Brüssel getroffen werden nach ihren Interessen zu beeinflussen, indem sie auf unterschiedliche Akteure zugehen und ihnen unterschiedliche Informationen vorlegen. Zum Beispiel bei der Gleichbehandlungsrichtlinie die in ihrer aktuellen Version 2004 beschlossen wurde. Sie verbietet die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Da innerhalb der Kirche bestimmte Ämter nur für Männer vorgesehen und damit gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie verstoßen würde, wurde eine Ausnahmebestimmung seitens der Kirche bewirkt, welche besagt, dass Mitgliedstaaten das Recht besitzen, spezielle Bereiche der Gleichbehandlungsrichtline außen vor zu lassen. Anhand dessen ist zu erkennen, dass die EU bereit ist, auf die Interessen, Wünsche und Probleme religiöser Einrichtungen und Organisationen Rücksicht zu nehmen und Gesetze derart auszulegen, dass die Kirchen durch Ausnahmeregelungen zufriedengestellt werden. Die Kirche betreibt um diese Ausnahmeregelungen zu erlangen Lobbyarbeit, da sie ansonsten beträchtliche Nachteile erlangen würden. Liedhegener und Gerstenhauer bezeichnen aufgrund der Zusammenarbeit von Saat und Kirche ihr Verhältnis als ein kooperatives, da die EU das wechselseitige Verhältnis zwischen Union und religiösen Gemeinschaften akzeptieren und ausgestalten, aber auch der Intention nach fördern. [10]

Neofunktionalismus und Spill-Over-Effekt[Bearbeiten]

Die wachsende Bedeutung der Kirchen- und Religionspolitik durch die Europäisierung, sowie die Intensivierung der Beziehungen durch Kooperationen zwischen der EU und den Kirchen kann anhand des Neofunktionalismus erklärt werden. In der Theorie des Neofunktionalismus wird nach Haas argumentiert, dass eine einmalige begonnene Kooperation zwischen Staaten in bestimmten Bereichen eine Eigendynamik entwickelt und sich der Prozess somit „wie von selbst“ vertieft. Innerhalb dieser Vertiefung spielt der Spill-Over-Effekt eine besondere Rolle, da er der „Motor“ der Integration sei.[9]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Eurostat - Tables, Graphs and Maps Interface (TGM) table. Abgerufen am 14. September 2017.
  2. DISCRIMINATION IN THE EU IN 2012. Abgerufen am 14. September 2017.
  3. 3,0 3,1 3,2 Laura Katscher: Die Kirchen und die Europäische Union - Kirchliche Interessenvertretung im europäischen Mehrebenensystem. Darmstadt 2013, S. 40 ff., 82 ff.
  4. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art 140. Abgerufen am 14. September 2017.
  5. Heidrun Abromeit: Demokratien im Vergleich. S. 244.
  6. Rudolf Speth: Interessenvertretung durch NPOs: Vom Mitgliederverband zur professionellen Advocacy? 2016, S. 245.
  7. Transparenz und die EU. Abgerufen am 14. September 2017.
  8. Hartmut Behr: Einleitung: Politik und Religion in der Europäischen Union: Zwischen nationalen Traditionen und Europäisierung. Wiesbaden 2006, S. 11 ff.
  9. 9,0 9,1 Bernhardt Seeger: Europäische Integration und Säkularisierung von Staat und Politik. Nomos, Baden-baden 2008, S. 48, 115 ff.
  10. 10,0 10,1 Antonius Liedhegener: Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon - Auf dem Weg zu einem kooperativen Verhältnis Religion und die Vertiefung der Europäischen Union. Wiesbaden 2010, S. 56, 167 ff.
  11. Lazaros Milioloulos: Das Europäverständnis christlicher Kirchen im Zuge der Europäisierung: Ein Konvergenzprozess? 2015, S. 21 f.
  12. Friederike Böllmann: Organisation und Legitimation der Interessen von Religionsgemeinschaften in der europäischen politischen Öffentlichkeit. Eine quantitativ-qualitative Analyse von Europäisierung als Lernprozess in Religionsorganisationen. 2010, S. 49.
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