Kampfkommandanten-Erlass (Führerbefehl Nr. 4 und Nr. 5)
Der Kampfkommandanten-Erlass (Führerbefehl Nr. 4 und 5.) wurde durch die Führerbefehle Nr. 4 vom 14. Februar 1943 und Nr. 5 vom 28. Februar 1943 in der deutschen Wehrmacht benannt. Diese Befehle waren eine Reaktion von Adolf Hitler auf die drohenden Gebietsverluste, die durch die Gegenangriffe der Roten Armee auf dem besetzten Territorium der Sowjetunion eintraten und durch die Niederlage der 6. Armee in Stalingrad gezeigt wurde.
Inhaltsverzeichnis
[Verbergen]Führerbefehle Nr. 4 und Nr. 5[Bearbeiten]
Während der Führerbefehl Nr. 4 sich weitgehend auf die Bedingungen während einer Räumung einer Frontposition bezog (siehe unten), betraf der Führerbefehl Nr. 5 als Ergänzung von Nr. 4 die unmittelbaren Umstände, die zur Verteidigung einer Frontposition als notwendig gehören sollten. Dabei wurde der Auftrag wie folgt eingegrenzt:
1. Verteidigung des betreffenden Ortes bis zuletzt.
2. Ausschöpfung aller Möglichkeiten hierzu.
3. Einsetzten auch des letzten deutschen Kämpfers - verhindern, dass Paniken entstehen.
4. Geregelte Durchführung einer Räumung nach nur militärischen Gesichtspunkten.
Als Durchführender der Vollmacht für die örtlichen Bedingungen wurde der Kampfkommandant genannt, der besonders durch eine Armbinde gekennzeichnet werden sollte. Dasselbe sollte auch für Strassenkommandanten gelten. Den Kommandanten sollten Fliegende Kriegsgerichte und Standgerichte beigegeben werden.
Hitler war entschlossen, ein Exempel entsprechend dieser Befehle auszuüben, als ihm der Verlust des Eisenbahnknotenpunktes Newel[1] an der Nahtstelle der Heeresgruppe Nord und der Heeresgruppe Mitte am 6. Oktober 1943 bekannt wurde.
Fall Newel [2][Bearbeiten]
Im September 1943 näherte sich der Verlauf der Ostfront der Stadt Newel. Der nördliche Frontabschnitt gehörte zur Heeresgruppe Nord[3] und wurde von der 16. Armee[4] gehalten. Nach Süden grenzte der Frontverlauf an das von der Heeresgruppe Mitte[5] gehaltene Gebiet. Die entsprechende Front wurde vom XXXXIII. Reserve-Armeekorps[6] unter dem Befehl des Generals Karl von Oven[7] und weiter südlich vom II. Luftwaffenfeldkorps unter dem Befehl von General der Flieger Alfred Schlemm[8] verteidigt. Newel lag im Bereich der Verteidigung des XXXXIII. Armeekorps.
Zum Kampfkommandanten von Newel wurde der Oberst der Reserve Schröder ernannt. Der Ortskommandanten von Newel war der Hauptmann der Reserve, Rechtsanwalt und Notar Dr. Hans Culemann (* 6. Juli 1900 in Barmen; † 1. Februar 1944 in Lötzen)[9]. Im September 1943 befand sich Oberst Schröder auf Urlaub. Seine Vertretung hatte der Major Jöckel übernommen.
Am 6. Oktober 1943 griffen morgens gegen 4 Uhr sowjetische Einheiten die Nahtstelle zwischen den Heeresgruppen Nord und Mitte an. Während es dem Kommandeur des 547. Grenadier-Regiments Oberst Robert Colli[10] gelang, den Angriff im Bereich des XXXXIII. Armeekorps abzuwehren, brechen sowjetische Panzerkräfte im Bereich des II. Luftwaffenfeldkorps durch und eroberten ohne grosse Gegenwehr Newel im Handstreich. Jöckel und Culemann waren zu diesem Zeitpunkt auf einer Frontinspektion im Umfeld von Newel und konnten nach der Nachricht von der Eroberung von Newel nur noch nach hinhaltender Gegenwehr den Stab der Ortskammandantur nach Westen retten. Der bedeutende Eisenbahnknotenpunkt bei Newel samt der dort lagernden Vorräte fiel den sowjetischen Einheiten nach achtstündigem Kampf in die Hände. Die beteiligten sowjetischen Soldaten erhielten als Auszeichnung für den Erfolg der Operation ein Ärmelband mit der Aufschrift "Newel".
Von deutscher Seite versuchte danach die 16. Armee im Raum Newel eine Operation, die elf sowjetische Divisionen einschliessen sollte, um damit Newel zurückzugewinnen. Nach monatelangen Kämpfen, die der 16. Armee annähernd 20.000 Mann an Verlusten kosten sollte, wurde die Operation aufgegeben. Newel wurde nie mehr von deutschen Truppen zurückerobert.
Ermittlungen der Wehrmachtsjustiz[Bearbeiten]
Die Nachricht vom Verlsut von Newel führte bei Hitler zu einem Ausbruch des Zornes und der Forderung nach einer Untersuchung vor einem Kriegsgericht. Mit der Leitung der Untersuchung des Falles wurde der Generalrichter Ernst Wunderlich der Heeresgruppe Nord beauftragt. Die Ermittlungen beim XXXXIII. Armeekorps übernahm der Oberstrichter Ernst von Dörnberg. Dörnberg meldete sich beim Chef des Stabes der Heeresgruppe Nord, Generalleutnat Eberhard Kinzel[11]. Kinzel teilte ihm mit, er solle Schuldige suchen. Ironisch merkte er an, dass er ihn melden sollte, weil die Heeresgruppe keine Reserven zur Verteidigung Newels bereit gestellt hätte.
In diesem Sinne äußerte sich auch der Obrbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Generalfeldmarschall Georg von Küchler[12]. Dörnberg besuchte danach die einzelnen Einheiten in dem umkämpften Frontabschnitt, so Generalleutnant Theodor Scherer[13], den Kommandeur der 83. Infanterie-Division[14]. Danach suchte Dörnberg den Generalleutnant Werner Richter[15], Kommandeur der 263. Infanterie-Division[16] auf. Hier ermöglichte ihm Richter den Nachweis, dass der Durchbruch der sowjetischen Einheiten eindeutig beim II. Luftwaffenfeldkorps gelang. In Pleskau[17] vernahm Dörnberg noch den Oberst i.G. Edmund Blaurock[18], der am 6. Oktober 1943 als Chef des Stabes des XXXXIII. Armeekorps führte. Dörnberg wurde berichtet, dass die 58. Infanterie-Division[19] im Anmarsch seit dem 30. September 1943 in Richtung Newel war, aber dort nicht mehr in die Kämpfe direkt am 6. Oktober 1943 eingreifen konnte. Ein Regimentskommandeur der Division auf der Erkundung in Newel fiel beim Einmarsch der sowjetischen Einheiten. Dörnberg wurde nun direkt zum Hauptquartier des Oberkommando des Heeres (OKH) nach Lötzen befohlen, wo er mit Culemann eintraf.
In Lötzen trug Dörnberg seine Ermittlungen dem General z.b.V. beim OKH Eugen Müller[20] vor. Dieser wollte die Ergebnisse der Ermittlungen dem Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel[21] und dem Chef des Generalstabs General Kurt Zeitzler[22] vortragen. Als Dörnberg bat, bei dem Vortrag dabei zu sein, lehnte Müller das ab.
Dörnberg lieferte noch einen schriftlichen Bericht, der das XXXXIII. Armeekorps und den Kampfkommandaten bezüglich des Verlustes von Newel entlastete. Müller aber wollte Hitler einen Schuldigen liefern und befahl Dörnberg, wieder zu seiner Dienststelle zurückzukehren.
Kriegsgerichtsurteil[Bearbeiten]
Am 16. Dezember 1943 trat das Kriegsgericht zusammen. Culemann und Jöckel wurden zum Tode verurteilt. Schröder wurde zu fünf Jahren Haft und mit der Degradierung verurteilt. Zahlreiche Offiziere wendeten sich an die Heeresinstanzen, um eine Begnadigung zu erreichen. Darunter der Chef des Heerespersonalmates General Rudolf Schmundt[23]. Als einziger lehnte General Zeitzler ein Gnadengesuch ab. Hitler fegte alle Gesuch auf Begnadigung beiseite. Am 1. Februar 1944 wurden Culemann und Jöckel erschosssen. Schröder verbrachte die Haft in Torgau.
Nachkriegsprozess[Bearbeiten]
Am 29. April 1959 verkündete das Landgericht Düsseldorf das Urteil über den Fall Newel in Bezug auf den Verurteilten Hans Culemann[24]. Das Urteil des Kriegsgerichts bestand in einer Rechtsbeugung, weil das Ansinnen Hitlers, aus den Befehlen Nr. 4 und Nr.5 - die Forderung Verteidigung des betreffenden Ortes bis zuletzt - nicht abgeleitet werden konnte, dass der Kampfkommandant bis zum Tode den Ort sinnvoll verteidigen musste.
Das Landesgericht stellte fest, dass
1. das Urteil vom 16. Dezember (im Urteil wurde der 17. Dezmeber 1943 genannt) 1943 wider besseres Wissen und entgegen der Überzeugung der beteiligten Richter ergangen ist und dass
2. bei richtiger Würdigung der dem Gericht vorgelegten Ermittlungsergebnisse eine Verurteilung nicht hätte erfolgen dürfen.
Die Rechtsbeugung im Kriegsgerichtsurteil rechtfertigte somit die Aufhebung eines auf ihr beruhenden Urteils im Wiederaufnahmeverfahren.
Dokumentation[Bearbeiten]
Die Führerbefehle Nr. 4 und Nr. 5 wurden im Originaltext dokumentiert[25]. Die Rechtschreibung wurde nach der geltenden Reform verändert.
Führerbefehl Nr. 4 vom 14. Februar 1943[Bearbeiten]
Auf Grund mir erstatteter mündlicher Meldungen muss ich nochmals auf folgende Forderungen hinweisen und ihre strikte Durchführung durch Führung und Truppe verlangen. Sie liegen im ureigensten Interesse der schwer kämpfenden Truppe selbst. Ihre Nichtdurchführung bringt dem Feind unübersehbaren Vorteil.
1. Bei Räumungen dürfen keine Waffen, kein Fahrzeug, kein Gerät unvernichtet in Feindeshand fallen. Zeit zum Zerstören muss immer noch vorhanden sein. Der Russe hat und das gezeigt. Es darf nicht vorkommen, dass er uns mit unseren eigenen Waffen und Munition beschiesst oder mit den eigenen Fahrzeugen verfolgt.
2. Bei Räumungen müssen für den Feind wertvolle und bald nutzbare zu machende Einrichtungen, Unterkünfte usw. vernichtet oder verbrannt werden. Oft wird Munition, deren Rückführung nicht mehr möglich ist, dazu ausgenutzt werden können. Je gründlicher die Zerstörungen, umso mehr wird das Vorgehen des Feindes verlangsamt.
3. Bei Räumungen sind alle Männer zwischen 15 u. 65 Jahren von der Truppe mitzuführen. Die Truppe hat so immer Arbeitskräfte für Schanzarbeiten bei sich, und es werden Kriegsgefangene für neue Anwendung (Abgabe an Luftwaffe als Ersatz für abgegebene Mannschaften) freigemacht. Der Feind kann so nicht, wie er es jetzt massenweise macht, die gesamte männliche Bevölkerung als Kämpfer einziehen.
4. Bei planmässigen grösseren Räumungen ist, wenn irgend möglich, die Masse der Zivilbevölkerung mitzunehmen und später als Arbeitskraft zu verwenden. Die Dörfer sind dann zu vernichten.
5. Bei Räumungen sind alle deutschen Soldaten noch mehr als bisher als Verstärkung der Kampftruppe oder als Vernichtungstruppe oder als Verkehrsregelungs- und Aufsichtsorgane zu erfassen und einzusetzen. Es darf nicht vorkommen, dass bei Rückwärtsbewegungen ein grosser Schwamm sich mehr oder weniger ungeordnet nach hinten wälzt, viel Privatsachen mitführt und üble Gerüchte ausstreut. Es muss hier mit eisernen Mitteln, durch Einsatz aller verfügbaren Stäbe und Offiziere, durch Einsatz der Generale z.b.V. mit fliegenden Kriegsgerichten, durch restlosen Einsatz des Streifendienstes, der Feldgendarmen, der G.F.P. und aller bisherigen territorialen Dienststellen eingegriffen werden. Die Herren Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und Armeen haben hier mit allen Mitteln scharf durchzugreifen und die Massnahmen durch planmässiges Abfliegen der Haupt-Rückmarschstrassen und Durchführen starker Razzien in den Grossstädten zu übrwachen und sofort einschreiten zu lassen.
Führerbefehl Nr. 5 vom 28. Februar 1943[Bearbeiten]
In Ergänzung zum Führerbefehl Nr. 4 befehle ich:
Um bei Rückzugsbewegungen in den Ortschaften und den Hauptstrassen die unbedingt notwendige Ordnung zu schaffen und um alle Kräfte zum Kampf auszunutzen, sind an allen grösseren Orten Kampfkommandanten und auf allen Hauptrückzugsstrassen Strassenkommandanten zu bestimmen.
Die Auswahl hierfür ist nicht nach Dienstrang, sondern nach Persönlichkeitswert zu treffen. Ihnen sind alle schon vorher eingesetzten Behörden, wie Ortskommandanten usw., - auch wenn die betref. Dienststellenleiter älter als sie sind - zu unterstellen. Die Kampfkommandanten haben allein die Verantwortung für die Verteidigung des Ortes und die geregelte Durchführung von Räumungs- und Rückzugsbewegungen und haben hierzu diktatorische Vollmachten. Sie haben die Pflicht, alle Mittel rücksichtslos gegen alle Personen einzustzen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Ihr allgemeiner Auftrag ist:
- Verteidigung des betreffenden Ortes bis zuletzt.
- Ausschöpfung aller Möglichkeiten hierzu.
- Einsetzen auch des letzten deutschen Kämpfers - verhindern, dass Paniken entstehen.
- Geregelte Durchführung einer Räumung nach nur militärischen Gesichtspunkten.
Ein Sonderauftrag wird ihnen von Fall zu Fall von den vorgesetzten Stellen gegeben. Die Kampfkommandanten führen je nach Grösse des betreffenden Ortes die Regiments- oder Kommandeurs-Kdr.-Flagge mit Inschrift Kampfkommandant und einer entsprechenden Armbinde als Zeichen ihrer Vollmacht.
OKH (Pers. Amt) wird - soweit die Führungsreserven der Heeresgruppen nicht ausreichen - geeignete Offiziere auf Anforderung zur Verfügung stellen.
Das Gleiche gilt für die Strassenkommandanten.
Kampf- und Strassenkommandanten sind Fliegende Kriegsgerichte und Standgerichte beizugeben.
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- Hochspringen ↑ Stadt Newel
- Hochspringen ↑ Ernst von Dörnberg, Wehrmachtsjustiz im Dritten Reich - Von Newel bis Remagen, Hannover 1948, S. 2-5
- Hochspringen ↑ Heeresgruppe Nord
- Hochspringen ↑ 16. Armee (Wehrmacht)
- Hochspringen ↑ Heeresgruppe Mitte
- Hochspringen ↑ XXXXIII. Armeekorps
- Hochspringen ↑ General Karl von Oven
- Hochspringen ↑ General der Flieger Alfred Schlemm
- Hochspringen ↑ Matthias Rücker, Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus: Rechtliche Ausgestaltung der Werbung und Tätigkeit des Werberats der deutschen Wirtschaft, Frankfurt/Main 2000, S. 361
- Hochspringen ↑ Oberst Robert Colli
- Hochspringen ↑ Generalleutnant Eberhard Kinzel
- Hochspringen ↑ Generalfeldmarschall Georg von Küchler
- Hochspringen ↑ Generalleutnant Theodor Scherer
- Hochspringen ↑ 83. Infanterie-Division
- Hochspringen ↑ Generalleutnant Werner Richter
- Hochspringen ↑ 263. Infanterie-Diviosion
- Hochspringen ↑ Pleskau
- Hochspringen ↑ Oberst i.G. Edmund Blaurock
- Hochspringen ↑ 58. Infanterie-Division
- Hochspringen ↑ General z.b.V. der Artillerie Eugen Müller
- Hochspringen ↑ Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel
- Hochspringen ↑ Genral Kurt Zeitzler
- Hochspringen ↑ General Rudolf Schmundt
- Hochspringen ↑ Neue Juristische Wochenschrift München, 12. Jahrgang 1959, 30. Heft, S. 1334-1336
- Hochspringen ↑ C. F. Rüter, DDR-Justiz und NS-Verbrechen - Verfahrensregister und Dokumentenband, München 2002, S. 222-223