Islamische Quarantäne
Als sogenannte Islamische Quarantäne wird die umstrittene medizingeschichtliche These von William Bernstein bezeichnet, nach der eine Unterbrechung der direkten Handelsbeziehungen zwischen Europa und Asien in Folge der Islamischen Expansion für den Zeitraum vom 7. Jahrhundert bis ins 14. Jahrhundert ursächlich dafür sei, dass in diesem Zeitraum in Europa Pestepidemien ausgeblieben wäre. Die Pest ist ursprünglich eine Zoonose von Nagetieren (Murmeltieren, Ratten, Eichhörnchen), bei deren Populationen sie enzootisch sein kann. Diese Populationen sind die natürlichen Reservoire des Pestbakteriums, von denen aus gelegentlich häusliche Nager wie beispielsweise Ratten infiziert werden. Während zumindest heute in Europa keine infizierten Tierpopulationen bekannt sind, existieren heute wie damals solche in Asien.
Inhaltsverzeichnis
Argumentationslinie[Bearbeiten]
Die Unterbrechung der Handelswege[Bearbeiten]
Ab 630 stand Bab al-Mandab, die rund 27 Kilometer breite Meeresstraße und einzige natürliche Verbindung des Roten Meeres mit dem Indischen Ozean, unter muslimischer Herrschaft und konnte von europäischen Handelsschiffen nicht mehr durchquert werden. Damit war eine der traditionellen Handelsrouten zu den Hafenstädten im Roten Meer unterbrochen, von wo aus für Europa bestimmte Ware mit Karawanen an die nordafrikanische Küste transportiert wurde. 636 siegten muslimische Heere über die Perser in der Schlacht von Kadesia und besetzten anschließend Mesopotamien.[1] In den folgenden Generationen dehnte sich die Herrschaft des Islam immer weiter nach Osten und Nordosten aus. Sie unterbrach dann auch das bereits zur Zeit des Römischen Reiches bestehende System an Handelswegen, die meist als Seidenstraße zusammengefasst werden. Erst die mongolischen Eroberungen gegen Ende des 13. Jahrhunderts leiteten erneut eine Ära intensivierter Handelskontakte zwischen Europa und Asien ein.[2]
Wiederauftreten der Pest[Bearbeiten]
Die letzte große europäische Pestepidemie vor der Unterbrechung der Handelswege war die Justinianische Pest, die 541 in Ägypten ausbrach und deren letzte Krankheitswellen sich 767 an der Peripherie des Byzantinischen Reiches ereigneten. Die nächste große europäische Pestwelle war der Schwarze Tod, der Europa ab 1347 heimsuchte und dessen Krankheitserreger Europa über Handelswege der Seidenstraße erreichte: 1338 oder 1339 erreichte die Pest die christliche Gemeinschaft der Assyrischen Kirche am Yssykköl-See im heutigen Kirgisistan. 1345 erkrankten die ersten Menschen in Sarai an der unteren Wolga und auf der Krim, im Jahre 1346 erkrankten erste Einwohner von Astrachan. Im gleichen Jahr belagerte die Goldene Horde die von den Genuesern gehaltene Hafenstadt Kaffa (das heutige Feodossija) auf der Halbinsel Krim. Mit dem Vordringen der Pandemie nach Kaffa geriet die Krankheit in das weitverzweigte Handelsnetz der Genueser, das sich über die gesamte Mittelmeerküste erstreckte. Von Schiffen verbreitet, gelangte die Krankheit 1347 nach Konstantinopel, Kairo und Messina auf Sizilien. Von dort aus breitete sie sich in den folgenden vier Jahren zuerst über den See-, dann auch über den Landweg über ganz Europa aus.
Konkurrierender Ansatz[Bearbeiten]
Die These der Islamischen Quarantäne unterstellt ähnlich wie die Pirenne-These eine große Auswirkung der Islamischen Expansion auf die Handelsbeziehungen im 7. und frühen 8. Jahrhundert.
Die Pirenne-These geht unter anderem von einem Zusammenbruch des Orienthandels und einem Verschwinden der gesamten Schifffahrt im westlichen Mittelmeer aus. Dies führte im kontinentalen Westeuropa zum Verschwinden der Großkaufleute (auch im Landesinneren) und der orientalischen Importgüter (besonders Papyrus, Gewürze, Seide und Gold). Die Pirenne-These gehört zu den meist diskutierten Geschichtstheorien des 20. Jahrhunderts. Dabei werden weniger die kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen im Mittelmeerraum in Frage gestellt, sondern, ob dies im Rahmen eines kontinuierlichen Wandels oder einer katastrophalen Zäsur stattfand, und welche Rolle dabei die islamische Expansion spielte.
Als überzogen gilt Historikers Henri Pirennes Versuch, das Vordringen des Islams als die Ursache für eine vom Zusammenbruch des Fernhandels ausgelöste dramatische Wirtschaftskrise und für den ökonomischen Strukturwandel zu bestimmen. Die heutige Forschung nimmt stattdessen eine Vielzahl von Ursachen für die wirtschaftlichen Veränderungen an, wobei die islamische Expansion höchstens eine untergeordnete Rolle spielt.[3]
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ William Bernstein: A Splendid Exchange – How Trade shaped the World, Atlantic Books, London 2009, ISBN 978-1-84354-803-4, S. 137
- ↑ William Bernstein: A Splendid Exchange – How Trade shaped the World, Atlantic Books, London 2009, ISBN 978-1-84354-803-4, S. 138 und S. 139
- ↑ Michael McCormick: Origins of the European Economy. Communications and Commerce, A.D. 300–900, Cambridge 2001, ISBN=0-521-66102-1, S. 115-119; John Moorhead: The Roman Empire Divided, 400-700, Harlow 2001, S. 248 f.