Grundbegriffe einer Poetik im 20. Jahrhundert

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Im Sommersemester 1963 dozierte Helmut Heißenbüttel im Rahmen der Frankfurter Poetik-Vorlesungen über die „Grundbegriffe einer Poetik im 20. Jahrhundert“.

Inhalt[Bearbeiten]

1. Vorlesung: Ist Literatur messbar?[Bearbeiten]

In seiner ersten Vorlesung versucht Heißenbüttel die Frage zu beantworten, ob und inwieweit sich die Literatur des 20. Jahrhunderts von der Literatur früherer Zeiten grundlegend unterscheidet. Zitiert wird zunächst ein Leserbrief der Zeitschrift Akzente, der sich kritisch zu einem darin veröffentlichten Gedicht Heißenbüttels äußert. Jene Kritik sei insofern symptomatisch für die Einstellung gegenüber neuer Literatur, als sie in ihrem Urteil von konventionellen Kriterien ausgehe: der Erwartung einer Aussage, eines lyrischen Stils, einer symbolischen Darstellung und eines besonderen Inhalts. Dieses Vorverständnis gehe auf die Literatur früherer Zeiten zurück, und habe etwa in der Lyrik Goethes ihren Ursprung.

Anschließend zitiert Heißenbüttel Auszüge des 1959 im Reallexikon der deutschen Literatur veröffentlichten Artikels „Literatur und Ästhetik“, der das Verhältnis von Poesie, Poetik und Literaturwissenschaft reflektiert. Heißenbüttel kommt zu dem Schluss, dass die Wissenschaft der zeitgenössischen Literatur nicht gerecht werde: Die Entstehung von Literatur und die theoretische Durchdringung derselben strebten auseinander.

Nachfolgend zitiert Heißenbüttel einen Auszug aus Ernst Robert Curtius’ „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“. Curtius fordere eine Theorie und Technik der Literatur, die der Literaturwissenschaft und Literaturkritik als theoretische Grundlage dienen könne: eine neue Poetik, die dem gegenwärtigen Stand der Literatur gerecht werde. Den im deutschen Sprachraum letzten Versuch einer derartigen Poetik sieht Heißenbüttel im "Versuch einer Critischen Dichtkunst" von Johann Christoph Gottsched.

Heißenbüttel zufolge steckt hinter der systematisch katalogisierenden Poetik Gottscheds die Grundannahme der Aufklärung: dass die Welt vernünftig eingerichtet sei und die menschliche Vernunft die Welt in ihrer Ganzheit erfassen könne. Diese Voraussetzung könne Heißenbüttel nicht teilen. Von dieser Voraussetzung sei jedoch jede regulative Poetik abhängig. Folglich gebe es erstens keine Poetik für die Literatur des 20. Jahrhunderts und zweitens seien die Werke des 20. Jahrhunderts nicht beurteilbar, da jedes Werturteil von einer Poetik ausgehen müsse.

2. Vorlesung: Literatur und Grammatik[Bearbeiten]

Heißenbüttel zufolge wandten sich die Romantiker gegen "die Regeln"[1], namentlich gegen die Regeln der Grammatik. Dies habe bis heute die Vorstellung von Poesie geprägt. In ihrem Widerstand gegen die Regeln hätten die Romantiker jedoch verkannt, dass erst durch die Grammatik die Sprache zur Sprache werde; an den Regeln der Rhetorik, Poetik und Grammatik habe man die Literatur bis dahin sinnvoll messen können. Die Romantiker aber glaubten, dass die Reglementierung der Poesie durch die Regeln der Grammatik viele Sprachbereiche unausgesprochen lasse. Infolgedessen verlor die Grammatik ihren für die Poesie vorherrschenden Status und wurde zu einem nur noch formalen Merkmal herabgesetzt. Dies habe zu einer neuen Auffassung von Sprache geführt und der Dichtung neue Möglichkeiten des Ausdrucks eröffnet.

Die Diskrepanz zwischen gebundener und ungebundener, zwischen bedeutender und grammatischer Rede konstituiert nach Heißenbüttel ein Spannungsfeld, das, je nach Dominanz der Redeweisen, ein Gleichgewicht oder Ungleichgewicht bilden könne. Die zunehmende antigrammatische Tendenz der romantischen und nachromantischen Dichtung habe das ursprüngliche Gleichgewicht schließlich an seine Grenzen getrieben: so etwa durch die poésie pure und den Formalismus. Heißenbüttel bezeichnet die Absicht dieser literarischen Strömungen als "neue Grammatisierung"[2] des Sprachgebrauchs, oder, wie Max Rychner es formuliert hat, als "Erschaffung eines neuen sprachlichen Kunstbewußtseins"[3]. Diese Bewegung der reduzierten Grammatisierung unterlag seit Mallarmé einem steten Wandel und verflachte schließlich zu einer pseudostiliserenden Tendenz, die vergaß, wogegen ursprünglich Widerstand geleistet wurde.

Heißenbüttel unterscheidet zwei Tendenzen dieser für die Literatur des 20. Jahrhunderts typischen antigrammatischen Schreibweisen: die reproduzierende und die anti- oder freisyntaktische. Als Beispiel für die reproduzierende Darstellung zitiert Heißenbüttel ein Gedicht von Richard Dehmel, dessen rhetorisch-stilisierende Darstellung dem darzustellenden Subjekts nicht gerecht werde. Dagegen verbinde Bertolt Brecht in dem Lied der Mutter Courage reproduzierende mit antigrammatischen Elementen, sodass die authentischen Stereotypen der Redensarten zugleich ihrem alltäglichen Gebrauch entgegen verfremdet werden und so "die Wahrheit über den Zustand dieses Redens"[4] aufgedeckt werde; diese Art der Darstellung verweigere sich jeder symbolischen Lesart. Eine andere Form der Reproduktion sei das Prinzip der Montage, wie es etwa die Dadaisten, Surrealisten und Gertrude Stein umgesetzt hätten. Unabhängig von der Reproduktion sei noch das Prinzip der freien Syntax zu nennen, das sich unter anderem durch syntaktische Destruktion und Reduktion oder alogische Verknüpfungen auszeichne. Heißenbüttel schließt: "Antigrammatische, antisysntaktische Sprachveränderung und Sprachreproduktion sind wirksame Prinzipien der Literatur des 20. Jahrhunderts."[5]

3. Vorlesung: Zum Begriff des Gedichts nach Mallarmé und George[Bearbeiten]

In seiner dritten Vorlesung betrachtet Heißenbüttel die verschiedenen historischen Wandlungen des Gedichts. Das alltägliche Verständnis habe seinen Ursprung vor allem in den klassischen Gedichten; als Prototyp jener Gedichte zitiert Heißenbüttel Eichendorffs "Der alte Garten". Das Kriterium des Poetischen sei hier die symbolische Redeweise, nach Hegel: die Darstellung der Beziehung zwischen Bewußtsein und Außenwelt. Seine erste Wandlung habe das symbolische Gedicht im Zuge des Symbolismus durch die bewusste Konzentration auf dieses Kriterium erlebt. Hier habe das Gedicht insofern erstmals seine Unabhängigkeit gegenüber der Außenwelt erlangt, als die dichterische Rede sich selbst zum Gegenstand gemacht habe. Heißenbüttel veranschaulicht diese bis zur konkreten Poesie führende Entwicklung durch Gedichte von Georg Trakl, Carl Einstein und Eugen Gomringer. Im Fall von Einstein komme noch ein sprachspektischer Aspekt hinzu: Die Möglichkeit der sprachlichen Erfassung menschlicher Innerlichkeit werde infrage gestellt. Diesem Subjektverlust gelte es durch die Gewinnung neuer poetischer Ausdrucksmöglichkeiten zu begegnen. Während einige Lyriker durch Brechungsverfahren die symbolische Rede zu bewahren suchen, versuchen andere durch antigrammatische Sprachveränderung neue Wege zu gehen: so etwa Hans Arp, die Surrealisten oder die Lautgedichte des russischen Formalismus. Einen gänzlich neuen Typus stelle das visuelle Gedicht dar, das sich dem Medium des Symbols vollständig verweigere. Eine weitere Gedichtform sei das zyklische Gedicht: Das einzelne Gedicht lasse sich hier nicht durch sich selbst, sondern nur durch seinen Zusammenhang zu den jeweils anderen Gedichten verstehen. Auch hier bestehe die Absicht darin, eine Alternative zur symbolischen Ausdrucksweise zu finden.

4. Vorlesung: Theorie der Erzählung 1963[Bearbeiten]

Die ursprüngliche Funktion des Epos bestand nach Heißenbüttel in der Darstellung dessen, was den höchsten öffentlichen Ruhm beanspruchen konnte. Als jedoch jene öffentlichen Werte ihre Wirkung verloren, verlor auch die Erzählung ihre einstige Funktion: Die Hierarchie des Ruhms wurde fadenscheinig. Der Roman begann nun mit der Darstellung der sich selbst entlarvenden Repräsentanz; dieses Verfahren der Entlarvung sei die Triebfeder der Erzählung bis ins 20. Jahrhundert. Die Negation des Althergebrachten sei jedoch nur der Übergang zu dem neuen Gegenstand des neuen Romans gewesen: des Menschen in seiner Innerlichkeit. Einen Wendepunkt in dieser Entwicklung stelle der Roman "The Life and Opinions of Tristram Shandy" von Laurence Sterne dar. Das Subjektive als Darstellung menschlicher Beweggründe werde hier in radikaler Konsequenz zum neuen Maßstab des Erzählens erhoben. Diese Entwicklung führe mit zunehmender Radikalität bis zu den Romanen von Joyce, Proust und Musil. Auch aus politischen Gesichtspunkten habe sich der Roman stark gewandelt: Während der frühe Roman noch gegen den Feudalismus gerichtete revolutionäre Tendenzen offenbaren konnte, wurde vor allem der realistische Roman zur Stütze dessen, was auf eine feste gesellschaftliche und politische Ordnung drängte. Mit dem modernen Roman beginne sich schließlich die Einheit und Durchsichtigkeit menschlicher Innerlichkeit aufzulösen; die Erzählung vom autonomen Subjekt komme an ihr Ende. In der verwalteten Welt müsse auch der Mensch als verwaltetes Wesen - bestimmbar nur noch durch sein Verhältnis zu protokollarischen und statistischen Erfassungsmethoden - dargestellt werden.

5. Vorlesung: Erscheinungsformen der Allegorie im 20. Jahrhundert[Bearbeiten]

Heißenbüttel beginnt mit einem Zitat von Proust: Dieser reflektiert das Verhältnis von Stil und Erzählstoff bei Balzac. Heißenbüttel stimmt darin überein, dass nicht der Erzählstoff dem Stil, sondern der Stil dem Erzählstoff unterzuordnen sei; die Kunst des Erzählens bestehe folglich nicht in der poetischen Formalisierung fiktionaler Ereignisse, sondern vielmehr in der Auswahl und Organisation jener Ereignisse zu einer sinnvollen Abfolge - daran messe sich die Qualität der Erzählung, und daran habe sich seit Cervantes nichts geändert. Was sich jedoch geändert habe, sei der Stoff der Erzählung: "Die Entlarvung des Menschen als Subjekt ist vollendet."[6]. Was nun erzählt werde, sei die Situation des Menschen als verwaltetes Wesen; nur eine die Erfassungsmethoden der Verwaltung reproduzierende Darstellung bewahre dabei die Faktizität der Erzählung. Über den Begriff des Trivialromans gelangt Heißenbüttel zum Begriff der Allegorie; diese diene der Verdeutlichung und suggestiven Einübung einer Lehre. Bezeichnenderweise hebe sich die Trivialerzählung des 19. Jahrhunderts durch Indizien für allegorische Erzählelemente hervor, ohne diese dabei zu einer allegorische Lehre zu entwickeln. Der Trivialroman des 19. Jahrhunderts habe wiederum eine genuin reproduktive Tendenz, indem er jene Konventionen der Gesellschaft mit sich fortführe, die nicht mehr aktuell sind, während der seriöse Roman auf gesellschaftliche Zustände der Gegenwart oder Zukunft verweise bzw. vorausweise. Die Reproduktion einer stets ähnlichen Allegorese sei auch ein Kennzeichen der Literatur des 20. Jahrhunderts: Reproduziert werde jene Erzählform, die den Menschen als Ausgelieferten, aber Überlebenden darstelle.

6. Vorlesung: Über das Halluzinatorische in der Literatur[Bearbeiten]

In seiner letzten Vorlesung stellt Heißenbüttel Überlegungen zu einer neuen literarischen Typologie vor. Diese sei notwendigerweise durch ihren eigenen historischen Standort vorgeprägt und habe daher keine zeitlosen Kriterien anzubieten. Eine literarische Typologie sei offenbar eine Typologie der Sprache: So könne man etwa antisysntaktische, antigrammatische, artikulatorische, phonologische oder typographische Methoden der Sprachverwendung unterscheiden. Die sich von der Romantik herleitende Unterscheidung zwischen symbolischer und nichtsymbolischer Darstellung erweise sich insofern als unzureichend, als ein wesentliches Charakteristikum der neuen Literatur (zumindest in Bezug auf einen Typus) die Selbstbezüglichkeit ihrer Sprachverwendung sei: Die Sprache verweise auf ihre eigene sprachliche Tätigkeit und verzichte auf alle Realbezüge; diese Erscheinung bezeichnet Heißenbüttel als halluzinatorisch, insofern, als das Sprachwerk von der Welt der sinnlichen Erfahrung gänzlich abgelöst erscheine. Die Reduktion der literarischen Rede auf verschiedene Methoden der Sprachverwendung hat für Heißenbüttel radikale Konsequenzen: Die Frage nach der Qualität von Literatur sowie die Frage nach der Dichtung als etwas Höherem seien nicht länger relevant; auch das Gelingen von Literatur sei nicht von einer besonderen Gabe abhängig, sondern "von einer Einstellung der Sprache (oder anderen Medien) gegenüber, die jeder einnehmen kann"[7].

Literatur[Bearbeiten]

  • Helmut Heißenbüttel: Über Literatur. Walter Verlag, Olten 1966, DNB 456951342 (Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe 1966).
  • Helmut Heißenbüttel: Über Literatur. Ungekürzte 2. Auflage. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1972, ISBN 3-423-05384-4 (Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe 1966).
  • Helmut Heißenbüttel: Über Literatur. Klett-Cotta, Stuttgart 1995, ISBN 3-608-93372-7 (Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe 1966).

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Hochspringen Helmut Heißenbüttel: Frankfurter Vorlesungen über Poetik 1963. In: ders.: Über Literatur. Stuttgart: Klett-Cotta 1995 (Erstausgabe 1966). S. 152.
  2. Hochspringen Ebd., S. 157.
  3. Hochspringen Ebd.
  4. Hochspringen Ebd., S. 165.
  5. Hochspringen Ebd., S. 168.
  6. Hochspringen Ebd., S. 202.
  7. Hochspringen Ebd., S. 219.
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