Gefühlsathletik

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Antonin Artaud schreibt in „Das Theater und sein Double“ über den Begriff der Gefühlsathletik. Er vergleicht Schauspieler mit Athleten und meint, dass beide über ähnliche Gefühlsorganismen verfügen, aber diese nicht auf gleicher Ebene wirken. Es gebe körperliche Punkte mit denen man Gefühle lokalisieren könne. Beim Schauspieler werde der Körper vom Atem gestützt während beim Athleten das Gegenteil der Fall ist. Der Atem hat für Artaud eine wichtige Bedeutung.[1]

„Es steht fest, daß jedem Gefühl, jeder Geistesregung, jedem Aufwallen des menschlichen Gefühlslebens ein Atem entspricht, der zu ihm gehört.“[2]

Der Schauspieler werde von seinem Instinkt geleitet und kann laut Artaud Kräfte in seinen Organen finden, von deren Existenz er nichts wusste und er müsse das Menschenwesen als sein Double sehen um sich seiner Gefühlswelt bedienen zu können. Nach Artaud muss er sich der Gefühlswelt bewusst werden und diesen Wirkkräfte zuweisen. Der Glaube an eine fließende Stofflichkeit der Seele sei besonders wichtig für den Schauspieler. Das Wissen verleihe Macht über die Leidenschaften und Souveränität. Aufgrund dieser Beherrschung der Kräfte vergleicht Artaud den Schauspieler auch mit einem Krieger.[3] Inspiriert von der jüdischen Tradition der Kabbala meint er, dass die sechs Atemformen nicht nur für die Arbeit des Schauspielers, sondern auch bei der Vorbereitung dafür verwendet werden können. Durch den Atem ergründe der Schauspieler seine Persönlichkeit und mit ihm könne man die Stadion des Lebens wieder erklimmen und sich ein Gefühl wieder zu eigen machen. Der Atem sei männlich, weiblich oder androgyn. Mit bestimmten Atemformen könne man bestimmte Gefühle erzeugen. Artaud unterscheidet noch zwischen Kontraktions- und Entspannungszuständen.[4]

Besonders wichtig sind für Artaud die Lokalisierung des affektiven Denkens, der Krafteinsatz und die Punkte auf die sich dieser körperliche Krafteinsatz stütze. Diese Punkte seien ein Antrieb für die Ausstrahlung eines Gefühls. Es sei wichtig diese Punkte der Lokalisierung zu kennen, weil auf diese körperliche Erkenntnis eine stattliche Wiedergabe folgt. Das heißt, dass selbst der unbegabteste Schauspieler somit das Volumen seines Gefühls vergrößern könne. Er nennt bespielweise den Punkt des Zorns und den des Heldentums. Der Zuseher suche im Schauspiel seine eigene Realität und deshalb müsse ihm die Identifikation mit dem Atem ermöglicht werden. Jede Emotion habe organische Grundlagen. Kennt man die Punkte des Körpers könne man den Zuschauer in magische Trance versetzen.[5] Artaud hat sich wie man in Das Theater und sein Double lesen kann mit Religionen und Traditionen anderer Kulturen auseinandergesetzt. So fallen Begriffe wie Kabbala, Hinduismus[6] aber auch chinesische Medizin und Akupunktur[7] und nicht zu vergessen das balinesische Theater. Das Schauspiel vergleiche er mit einer religiösen Handlung. Dieses „absolute Schauspiel“ beruht laut Bernd Mattheus auf die theatralisch-religiösen Traditionen Griechenlands und Indiens.[8] Mattheus meint dass Artaud versucht, durch seine Kenntnisse und Erfahrungen beeinflusst, „der Diskursivität der Sprache, der europäischen Kultur, dem Denken in vorgegebenen Bildern zu entkommen.“[9]

Artaud wollte ein neues Theater, welches sich komplett vom psychologisierenden Theater unterscheidet. Leo Navratil meint, dass Schizophrene nicht nur zur Originalität sondern auch zum Konventionellen neigen. Der Schizophrenie unterwerfe sich bedingungslos der konventionellen Norm oder er ignoriere sie ganz. Antonin Artaud ignoriert das Konventionelle nicht nur, sondern er ist dagegen. Navratil spricht zwar in seinem Werk in Zusammenhang mit Malerei von Schizophrenen Patienten aber trotzdem erscheint ein Vergleich passend. Schizophrene seien häufig gesellschaftlich isoliert. Sie setzen sich laut Navratil sehr wohl mit der Welt in der sie leben auseinander. Diese intensive geistige Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt sei ein wichtiger Beweggrund ihres Schaffens.[10]

Literatur[Bearbeiten]

  • Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-596-26451-0.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Hochspringen Vgl. Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double: das Théâtre de Séraphin / Antonin Artaud [Deutsch von Gerd Henninger], Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 139f.
  2. Hochspringen Artaud, Das Theater und sein Double, S.140.
  3. Hochspringen Vgl. Artaud, Das Theater und sein Double, S.140f.
  4. Hochspringen Vgl. Artaud, Das Theater und sein Double, S.142-144.
  5. Hochspringen Vgl. Artaud, Das Theater und sein Double, S.145-147.
  6. Hochspringen Vgl. Artaud, Das Theater und sein Double, S.141.
  7. Hochspringen Vgl. Artaud, Das Theater und sein Double, S.145.
  8. Hochspringen Vgl. Mattheus, Bernd: Das Theater der Grausamkeit. Ein kapitales Missverständnis. In: Artaud, Antonin, Das Theater und sein Double: das Théâtre de Séraphin [Deutsch von Gerd Henninger], Berlin: Matthes & Seitz 2012, S.273.
  9. Hochspringen Vgl. Mattheus, Bernd: Jede wahre Sprache ist unverständlich, München 1977, S.20
  10. Hochspringen Vgl. Navratil, Leo: Schizophrenie und Kunst. 2. Aufl. Frankfurt am Main: 1996, S.145.
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