Geburtsort Jesu
Als Geburtsort Jesu nimmt die historische Jesusforschung heute überwiegend Nazareth in Galiläa an, das im ältesten Markusevangelium als Heimat- und Herkunftsort Jesu und seiner Angehörigen genannt wird (Mk 6,1-4 EU). Die Angabe des Ortes Betlehem in Judäa in den jüngeren Evangelien (Mt 2,1 EU; Lk 2,4–7 EU) wird meist als legendarisch beurteilt und aus theologischen Verkündigungsinteressen erklärt: Jesus sei als der im Judentum erwartete Messias ein leiblicher Nachkomme König Davids und müsse daher gemäß Mi 5,1 EU (profetische Geburtsankündigung des Messias) in Betlehem geboren worden sein.
Die Alte Kirche hielt Betlehem für den tatsächlichen Geburtsort Jesu. Heute vertritt nur eine Minderheit der historischen Forscher diese Ansicht.
Inhaltsverzeichnis
[Verbergen]Argumente für Bethlehem[Bearbeiten]
Der Evangelist Lukas, der sich in Lk 1,1–4 EU als zuverlässiger Geschichtsschreiber vorstellte, stellte Jesu Geburt in den Kontext einer römischen Volkszählung, die die Zahl der steuerpflichtigen Bürger erheben sollte. Deshalb seien Jesu Eltern in Josefs Herkunftsort Betlehem gezogen (Lk 2,1-5). Die sonst in den Evangelien häufige Erfüllung von Bibelzitaten fehlt hier.[1]
Matthäus (Mt 2,1) erwähnt weder eine Reise der Eltern Jesu von Nazaret nach Betlehem noch, dass es Josefs Herkunftsort war. Einige Autoren nehmen dennoch an, Jesu Eltern hätten vor seiner Geburt dort gelebt.[2] Ben Witherington nimmt an, Matthäus und Lukas hätten Bethlehem als Geburtsort Jesu in zwei unabhängigen Quellen vorgefunden und übernommen. Andere halten die Angaben der beiden Evangelien für ursprünglich, aber nicht für widersprüchlich.[3]
Als weiteres Indiz führen manche das außerkanonische Protevangelium des Jakobus (um 150) und die schon um 150 etablierte Pilgertradition nach Betlehem an.[4]
Argumente für Nazareth[Bearbeiten]
Eine allgemeine römische Volkszählung, die Lk 2,1 als Anlass der Reise von Jesu Eltern nach Betlehem angibt, ist in außerbiblischen Quellen für die wahrscheinlichen Geburtsjahre Jesu (7 bis 4 v. Chr.) unbelegt. Auch eine regionale Volkszählung unter Herodes ist nicht überliefert. Sie gilt als unwahrscheinlich, da Herodes sie nur mit Erlaubnis von Kaiser Augustus hätte durchführen können, aber dessen Gunst nach römischen Quellen im Jahr 8 v. Chr. verloren hatte. Der in Lk 2,1 genannte Statthalter Quirinus trat sein Amt nachweislich erst 6 n. Chr. an, vereinigte Judäa mit der Provinz Syrien und führte dann dort eine Zählung durch.[5]
Nazareth war laut Mk 6,1 ff. EU par. der Geburtsort Josefs und Wohnort seiner Familie. Jesus sei dort aufgewachsen, seine Geschwister hätten dort noch zur Zeit seines öffentlichen Auftretens gelebt. Jeder Hinweis auf Betlehem als Geburtsort Jesu und Herkunftsort seines Vaters fehlt. Auch im Matthäus- und im Lukasevangelium wird Jesus außerhalb der Geburtsgeschichten als Jesus „aus Nazaret“, als „Nazarener“ oder „Nazoräer“ bezeichnet (Mt 2,23 EU; 13,54ff. EU; 21,11; Lk 2,39 EU und öfter). Nach Mt 2,23 zogen seine Eltern nach ihrer Flucht nach Ägypten, also Monate nach Jesu Geburt, erstmals dorthin; nach Lk 2,39 dagegen kehrten sie nach seiner Darstellung im Jerusalemer Tempel (etwa eine Woche nach seiner Geburt) dorthin zurück. In Lk 4,16-24 EU nennen Anhänger und Gegner Jesu wie er selbst Nazareth seine „Heimat“, wo er als „Josefs Sohn“ bekannt gewesen und „aufgewachsen“ sei.
Auch im Johannesevangelium, dem jüngsten der vier kanonischen Evangelien, fehlt Betlehem. Nach Joh 1,45 f. EU stammte Jesus aus Nazareth. Diese Aussage wird hier von einigen seiner ersten Jünger bezeugt und gegen Widerspruch („Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen?“) bekräftigt. In Joh 7,41 f. EU lehnen Jesu Gegner seine Messianität mit dem ausdrücklichen Hinweis ab, dass der Messias nicht (wie Jesus) aus Galiläa kommen könne, sondern gemäß der Bibel in Betlehem, wo David lebte, geboren sein müsse. Dies wird als Widerspruch des Johannesevangeliums zur Geburtsorttheorie der Synoptiker gedeutet, da dem Autor mindestens das Lukasevangelium bekannt war.
Die meisten heutigen Neutestamentler halten die matthäischen und lukanischen Geburtsgeschichten weitgehend für Legenden.[6] Gerd Theißen folgert aus dem Gesamtbefund: „Jesus stammt aus Nazareth. Die Verlagerung des Geburtsortes nach Betlehem ist ein Ergebnis religiöser Fantasie.“[7] Dieses Fazit haben neuere Veröffentlichungen zum historischen Jesus als Forschungsstand übernommen.[8]
Literatur[Bearbeiten]
- Geza Vermes: Die Geburt Jesu. Geschichte und Legende („The Nativity. History and Legend“, 2006), Primus-Verlag: Darmstadt 2007, ISBN 978-3-89678-348-6
- Martin Koschorke: Jesus war nie in Bethlehem, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2011, ISBN 978-3-53423-639-8
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- Hochspringen ↑ Deutsche Bibelgesellschaft Online: Geburtsort Jesu.
- Hochspringen ↑ Geza Vermes: Die Geburt Jesu. Geschichte und Legende. Darmstadt 2007, ISBN 978-3-89678-348-6, S. 64; Clive Marsh, Steve Moyise: Jesus and the Gospels. London/New York 2005, ISBN 0-567-04073-9, S. 37
- Hochspringen ↑ Mark D. Roberts: Can We Trust the Gospels?: Investigating the Reliability of Matthew, Mark, Luke and John. Good News Publishers, Wheaton (Illinois) 2007, ISBN 1-58134-866-5, S. 102.
- Hochspringen ↑ Joan E. Taylor: Christians and the Holy Places: The Myth of Jewish-Christian Origins. Clarendon Press, Oxford 1993, ISBN 0-19-814785-6, S. 99–102.
- Hochspringen ↑ Dieter Timpe: Römische Geschichte und Heilsgeschichte. Berlin 2001, ISBN 9783110169423, S. 40-57
- Hochspringen ↑ E. P. Sanders: The Historical Figure of Jesus. London 1993, S. 85; Hans Lietzmann: Geschichte der Alten Kirche. Walter de Gruyter, Berlin 1999, ISBN 3110164981, S. 387; Hans Klein: Das Lukasevangelium. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 978-3-525-51500-6, S. 129
- Hochspringen ↑ Gerd Theißen, Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Göttingen 2001, S. 158
- Hochspringen ↑ Petra von Gemünden, David G. Horrell (Hrsg.): Jesus Gestalt und Gestaltungen: Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, ISBN 3525593627, S. 172