Entscheidungsautismus

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Der Entscheidungsautismus ist ein Modell von Schulz-Hardt, Frey und Luthgens, das im Jahre 1995 besondere Aufmerksamkeit erlangte. Es betrachtet Prozesse, die auf den einzelnen Ebenen von Einzel- und Gruppenentscheidungen auftreten und die die Qualität eines Entscheidungsprozesses negativ beeinflussen können. Der Entscheidungsautismus beschreibt das Phänomen von „Selbstbestätigungsprozessen“[1]. In Folge dessen erarbeitet das Individuum während der Entscheidungsfindung nicht die beste Lösung, sondern strebt nach Bestätigung seiner Ansichten, ohne diese kritisch abzuwägen.

Inhaltsverzeichnis

Theoretische Grundlage[Bearbeiten]

Der Grundgedanke, der hinter dem Modell des Entscheidungsautismus steckt, basiert auf der Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957, 1964; Irle, 1975). Laut dieser Theorie haben Individuen fast immer einen gewissen Vorbehalt, wenn sie sich in eine Entscheidungssituation begeben. Daraus resultiert, dass sie sich nicht unvoreingenommen der Entscheidungsfindung widmen, sondern sich durch ihre persönlichen Neigungen zum Ergebnis leiten lassen. In Folge dessen arbeiten sich Individuen sprichwörtlich zu, indem sie Selbstbestätigungstendenzen ausleben. Im Folgenden sind drei Handlungsschemata aufgelistet, die solche Selbstbestätigungstendenzen zum Ausdruck bringen[1]:

  • unausbalancierte Gewichtung der Entscheidungsalternativen, d.h. Bestätigen der favorisierten Alternative und Verleugnen der nicht favorisierten Alternative
  • selektive Auswahl der Informationen, d.h. Suche nach favorisierten Informationen und Vermeiden von nicht favorisierten Informationen
  • Kommunikationsungleichgewicht, d.h. Bevorzugen der Kommunikation mit Gleichgesinnten

Tiefergehende Forschungen haben gezeigt, dass Selbstbestätigungsmechanismen nicht erst während des Entscheidungsprozesses, sondern vielmehr schon im Vorfeld auftreten. Während einer Entscheidungsfindung zeichnen Selbstbestätigungsmechanismen sich dann umso mehr ab, je stärker das Individuum im Vorfeld eine Alternative bevorzugt hat. Im Extremfall ist diese Alternative hochgradig änderungsresistent und das Individuum erwartet bestätigende Informationen. Treffen diese Merkmale in einer Entscheidungssituation zu, so werden die Neigungen des Entscheiders als „monopolistische Präferenz[1] bezeichnet. In Erwartung Informationen zu erhalten, die seinen Standpunkt stützen, werden im Falle der monopolistischen Präferenz besonders starke Selbstbestätigungsmechanismen auf Seiten des Entscheiders getätigt. Wiederum ist es genau diese Extremsituation, die den Entscheidungsautismus kennzeichnet.

Randbedingungen des Entscheidungsautismus[Bearbeiten]

Das Modell des Entscheidungsautismus umfasst drei Kategorien von Randbedingungen, die den Selbstbestätigungsprozess auslösen oder verschärfen können. Sie lassen sich aufteilen in strukturelle Faktoren, situative Faktoren und soziale Faktoren[1]. Oftmals sind Entscheidungen in strukturell ungünstiger Atmosphäre eingebettet, beispielsweise durch ungenügende Kommunikation nach außen oder unzureichende Entscheidungsprozeduren. Verschärft wird das Phänomen des Entscheidungsautismus durch einen direktiven Führungsstil, der bereits eine präferierte Alternative aufzeigt oder wenn Gruppen überwiegend homogen besetzt sind oder Probeabstimmungen bereits zu Anfang getätigt werden, d.h. sich nur wenige Informationen aufgrund von einseitigen Diskussionen abwägen lassen. Vorzeitige Entscheidungen können auch im Rahmen der situativen Beeinflussung auftreten, wenn beispielsweise der Entscheidungsträger unter Zeitdruck steht oder er sich von vorangegangenen Erfolgen leiten lässt. Auch soziale Faktoren können dahin tendieren, eine konstruierte Stimmigkeit zu erzeugen, die unter neutralen Voraussetzungen anders ausgefallen wäre. Unter diesem Faktor sei auch die ideologische Fixierung einer Gruppe zu nennen, die im Falle starker Homogenität jegliche Kritik an der ideologiebezogenen Entscheidung unterbindet.

Symptomatik des Entscheidungsautismus[Bearbeiten]

Das Erfüllen der Randbedingungen in einer Entscheidungssituation erklärt zwar das Auftreten verstärkter Selbstbestätigungsmechanismen, führt jedoch nicht immer zu einer negativen Entscheidungsfindung. Für den Fall, dass die Präferenz des Entscheidungsträgers mit der bestmöglichen Entscheidung in der Realität übereinstimmt, kann das Beschließen der besten Lösung durch den gelenkten Entscheidungsprozess sogar beschleunigt werden. Umgekehrt kann eine nachteilige Entscheidung gefällt werden, wenn die Präferenz des Entscheidungsträgers nicht mit der eigentlichen Bestlösung übereinstimmt und die Entscheidung so schnell gefällt wird, dass keine Zeit für einen kritischen Entscheidungsprozess verbleibt, in dem die Präferenz hinterfragt werden kann. So entstehen nicht nur falsche Entscheidungen, sondern es kommt darüber hinaus zur Aufrechterhaltung von Fehlentscheidungen und zum Fortsatz verlustreicher Handlungen. Der nachteilige Entscheidungsprozess kann sich in selbstbezogenen Symptomen[1] äußern, die den eigenen Unfehlbarkeitsglauben, Selbstbeschwichtigung und die Spaltung der Weltsicht darstellen. Die unter Punkt 1 erwähnte selektive Kommunikation kann den sozialen Symptomen[1] zugeordnet werden. Ebenfalls unter Punkt 1 erwähnt ist die Abschirmung der Präferenz gegen andere Alternativen. Symptome dieser Art treten im Entscheidungsprozess[1] auf. Je nachdem wie stark die zuvor genannten Randbedingungen ausgeprägt sind, wird die Symptomatik des Entscheidungsautismus deutlich.

Literatur[Bearbeiten]

  • Festinger, L.: A theory of cognitive dissonance. Stanford: Stanford University Press, 1957.
  • Festinger, L.: Conflict, decision, and dissonance. Stanford: Stanford University Press, 1964.
  • Irle, M.: Lehrbuch der Sozialpsychologie. Göttingern: Hogrefe, 1975, ISBN 3-8017-0096-8
  • Elisabeth Ardelt-Gattinger, H. Lechner, W. Schlögl: Gruppendynamik. Anspruch und Wirklichkeit der Arbeit in Gruppen. Hrsg.: Elisabeth Ardelt-Gattinger. Verlag für angewandte Psychologie, Göttingen 1998, ISBN 3-8017-1093-9.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 Schulz, S.; Frey, D. In: Gruppendynamik S. 149 - 158: Fehlentscheidungen in Gruppen.
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