Doppelter Ort
Der Doppelte Ort ist ein Begriff aus der Theatertheorie und Theaterwissenschaft. Eingeführt wurde er von der deutschen Theaterhistorikerin und Professorin für Theaterwissenschaft Gerda Baumbach in ihrem Buch Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1 Schauspielstile im Jahr 2012. Der Doppelte Ort steht in der Anthropologie des Akteurs für die Relation zu der Realitätsebene und der Fiktionsebene im Theaterrahmen.
Inhaltsverzeichnis
[Verbergen]Begriff[Bearbeiten]
In der Theaterwissenschaft ist Theaterspielen als ein Grundmodell zu verstehen, das sich aus unterschiedlichen Wirklichkeiten zusammensetzt und sich sowohl historisch als auch kulturell „durch jeweilige Dominantenbildung bestimmter 'Orte' bzw. Wirklichkeiten verändern kann.“[1] Zwischen diesen 'Orten' bewegen sich alle Beteiligten im Theater, also die Schauspieler ebenso wie die Zuschauenden, fiktiv oder real. Der Doppelte Ort definiert also die Art der Kommunikation zwischen Akteuren und Publikum im Wechsel der Ebenen, bezogen auf die räumlichen Dimensionen im Theater.
Der erste Ort nach Baumbach ist die Realitätsebene. Sie ist jene Ebene, auf der Rezipienten und Akteure aufeinandertreffen. Der zweite Ort im Theater ist die Fiktionsebene. Das ist die Ebene, auf der Figuren erscheinen, präsentiert oder zur Schau gestellt werden. Diese beiden 'Orte' sind stets gleichzeitig vorhanden und können von beiden Parteien voll ausgeschöpft, nur teilweise genutzt oder auch ausgeblendet werden. Was sich als Theater ereignet, hängt von der Art und Weise ab, wie die Ebenen genutzt werden. Damit in Verbindung steht weiters, wie zwischen Bühne und Publikum kommuniziert wird und welche Arten des Zuschauens hervorgerufen werden. Der Doppelte Ort kann demnach in jeder Theaterinszenierung anders sein.
Die Theateranlage selbst spielt für den Doppelten Ort ebenfalls eine wichtige Rolle. Für die Anwesenheit von Realitätsebene und Fiktionsebene ist entscheidend, in welchem Verhältnis Bühne und Zuschauerraum zueinander aufgebaut sind. Je nach Bühnenaufbau und Publikumsanordnung kann der Doppelte Ort ein dreifacher oder gar vielfacher Ort sein.
Der Doppelte Akteur[Bearbeiten]
Vor allem macht sich der Doppelte Ort aber in der Darbietung des Schauspielers bemerkbar. Durch das Vorhandensein zweier bis mehrerer Wirklichkeitsebenen ist auch der Akteur gezwungen, sich zu vervielfachen – er wird zum Doppelten Akteur. Denn er ist einerseits der Künstler, der Körper, der auf dem Bühnengeschehen agiert und andererseits ist er die Figur, die Seele, die er im Zuge des Spiels darstellt und in deren Ermessen er handelt. Diese Doppelung des Seins kann unterschiedlich gehandhabt werden: Mit ihr kann offen umgegangen werden, spielerisch oder repräsentativ, oder sie kann versteckt werden. Dieses Konzept des Doppelten Akteurs ist jedoch, wenn die Doppelung versteckt wird, eher ein illusorisches. Denn der Akteur ist sich in seiner Doppelung bewusst, dass er nicht die Figur ist, sondern sie lediglich auf der Bühne verkörpert.
Die unterschiedlichen „Seinsweisen der Lebewesen, mit [Gernot] Böhme gesprochen, verschiedene 'Zustände'“[2] sind künstlerisch an den Darsteller gebunden. Für sie gelten dieselben Prinzipien wie für die Realitäts- und Fiktionsebene: Das heißt sie können sich im Theater ebenso überlappen, ineinandergreifen oder umgekehrt werden wie die Zeiten und Wirklichkeiten.
Fiktion und Realität[Bearbeiten]
Im Allgemeinen wird die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität in Abhängigkeit des Realitätsgehalts einer Geschichte getroffen.
Begriff Fiktion[Bearbeiten]
Der Begriff stammt vom lateinischen fingere (formen, gestalten, sich ausdenken) und fictio (Vorstellen, Bilden, Entwerfen, Gestaltung, Erdichtung, Personifikation). Der Begriff wurde sehr lange abwertend gebraucht, da die Fiktion mit Lügen, substanzlosen Nachbildungen und Trugbildern gleichgestellt war. Es wurde bemängelt, dass sie im Gegensatz zur Wahrheit (und) der realen Welt stehe und ihr der Realitätsgehalt fehle. „Diese Bedeutung geht auf historische Bewertungen des Fiktiven vor dem Hintergrund der Wahrheitsbegriffe zurück.“[3]
Eine Fiktion kann jedoch weder als wahr noch als falsch deklariert werden, denn ihr fehlen die überprüfbaren Referenzen. Sie kann sowohl eine mögliche als auch eine unmögliche Welt gestalten. „Fiktion meint daher (auch) eine nicht-referentielle Vorstellung im Sinne einer erkenntnispraktischen Dimension. Fiktion nimmt einen Abstand zum Realen und zur Realität ein und ist zugleich Wirklichkeit (im Sinne von: wirklich ist alles, was wirkt).“[3]
Begriff Realität und Wirklichkeit[Bearbeiten]
Was als Realität gilt, ist bis heute nicht eindeutig festgelegt. Je nach Wissenschaftsfeld variiert, wie Realität definiert wird. Die Frage nach Realität und Wirklichkeit im (Schauspieler-)Theater ist durch das Vorhandensein des Doppelten Orts besonders interessant. Was hier physisch wirklich ist, ist real und fiktiv zugleich.
Gerda Baumbach führt in ihrem Buch ein Zitat vom Quantenphysiker Wolfgang Pauli an, der erklärt: „Das, was wir antreffen, was sich unserer Willkür entzieht, womit wir rechnen müssen, ist das, was man als wirklich bezeichnet.“[3]
Schauspieler-Theater oder imaginäres Spiel ist physisch wirklich, was wiederum bedeutet, dass es real und fiktiv zugleich ist. Dies zieht unweigerlich das unauflösbare Problem dessen mit sich, „was wirkt, mit dem, was wirklich ist, in praxi gleichsam zu sein“[4]. Charakteristisch für den Prozess des Spielens ist das selbstverständliche Springen, das Wechseln der Orte und Ebenen zwischen Realem und Fiktiven, ohne dass es nicht wirklich wäre.
Fiktionsschranke[Bearbeiten]
Das Theater als solches ist im Wesentlichen als ein Kommunikationsmodell zu verstehen, welches aus unterschiedlichen Wirklichkeiten zusammengesetzt ist. Grundsätzlich festzuhalten ist die Anwesenheit des Schauspielers sowohl als Zivilperson wie auch als Künstler, Kunstfigur und Kunstperson, Rolle, Person, Charakter oder Figur.[5] Durch die Ausbildung von Dominanten im Rahmen von Fiktion und Realität, genauer gesagt im Zusammenhang dessen, wie sich Akteure und Publikum zwischen den realen und fiktiven Wirklichkeiten bewegen, verändert sich dieses gleichsame Modell in der kulturellen Historie.
Der Akteur kann in der gesamten Dimension, sowohl im ersten Ort wie auch im zweiten Ort agieren. Maßgeblich für die Definition und Zuordnung der unterschiedlichen Schauspieltypen ist die Durchlässigkeit oder Geschlossenheit der zwischen den Orten bzw. Ebenen anzuordnende Fiktionsschranke, führt Gerda Baumbach aus. Je nachdem wie durchlässig, wie geschlossen oder wie strikt geschlossen die Grenze zwischen den zwei Ebenen ist, hängen Schauspieltechnik, Art der Kommunikation und die anthropologische Dimension ab. Auf Grund dieser Divergenz lassen sich die drei Schauspielstile (Rethorischer Stil, Veristischer Stil, Comödien-Stil) definieren. Aber nicht nur die Durchlässigkeit oder der Grad der Geschlossenheit sind entscheidend, sondern maßgeblich sind auch die Lage, Position und die Variabilität der Fiktionsschranke.[6]
Im Rethorischen Stil wird die Fiktionsschranke unter anderem neben den baulichen Komponenten auch durch die Darstellung des Akteurs hergestellt. In diesem Stil kann die Fiktionsschranke in die ebenfalls der Fiktionalisierung unterliegenden Realitätsebene geschoben werden.[7] Im Veristischen Stil hingegen ist die Fiktionsschranke komplett unbeweglich. Dies liegt unter anderem an der baulichen Struktur, denn der Stil unterliegt den baulichen Beschränkungen der Bühnenform. Im Comödien-Stil ist die durch das Schauspiel erzeugte Fiktionsschranke erneut variabel, sie kann sowohl in die Realitätsebene wie auch in die Fiktionsebene geschoben werden.
Praxis des doppelten Ortes im Comödien-Stil[Bearbeiten]
Gerda Baumbach legt dar, dass beim „Comödien-Stil des Improvisations- und Masken-Theaters“[8] nicht nur die Doppeltheit von Akteur und dessen Kunstfigur offenkundig gehandhabt wird, sondern auch die Vervielfachung und Verwandlung eben dieser Kunstfigur, welcher in Verdopplung und Vervielfachung keine Grenzen gesetzt sind. Dies ist die Grundlage der offenen theatral-spielerischen Komunikation überhaupt und es geht dabei nicht nicht einfach um die offene Handhabung ansich. Gundsätzlich ist festzuhalten, dass der Akteur während seines kreativen Schaffenprozesses konstant eine Kunstfigur darstellt, wobei hierbei der Akteur an sich und dessen Kunstfigur keinesfalls ineinander aufgehen. Auf dem Grundsatz der konstant beibehaltenen Kunstfigur spielt der Akteur selbst mit unterschiedlichen Rollen, vervielfältigt und „metamo-rphosiert“[8] sie, ohne dass die Differenz zwischen der Kunstfigur und Rollen in Verbindung gestellt, überbrückt oder ausgeblendet wird. Ebenso wenig wie die Differenz zwischen der Zivil- und Kunstperson des Akteurs und seiner Kunstfigur ausgeklammert wird. Ganz im Gegenteil, denn wie bereits ausgeführt liegt die Grundlage des Spielens in eben diesen Ungleichheiten und Nuancierungen. Aus der Metamorphose geht ein Spiel mit „Sozialrollen, mit Geschlechtern, mit familiären Rollen, mit Göttern und anderen Gestalten der Mythologie, mit Tieren und anderen Kunstfiguren oder auch mit Objektiven“[8] hervor.
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- Hochspringen ↑ Kotte, Andreas, Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln: Böhlau Verlag 2005, S. 179.
- Hochspringen ↑ Baumbach, Gerda, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1. Schauspielstile. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 209.
- ↑ Hochspringen nach: 3,0 3,1 3,2 Baumbach, Gerda, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1. Schauspielstile. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 238.
- Hochspringen ↑ Baumbach, Gerda, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1. Schauspielstile. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 239
- Hochspringen ↑ Baumbach, Gerda, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1. Schauspielstile. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 229.
- Hochspringen ↑ Baumbach, Gerda, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1. Schauspielstile. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 242.
- Hochspringen ↑ Baumbach, Gerda, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1. Schauspielstile. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 243.
- ↑ Hochspringen nach: 8,0 8,1 8,2 Baumbach, Gerda, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1. Schauspielstile. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, S. 215.