Dienstleistungsengineering

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Dienstleistungsengineering ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet aus u. a. Wirtschaftsinformatik, Informatik, Ingenieurwissenschaften, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften und dient der systematischen Gestaltung von Dienstleistungen. In Abgrenzung zum Service Engineering, das unter dem Begriff Service ein viel größeres Spektrum abbildet (u.a. auch rein technische Services wie IT-Services oder Webservices), hat das Dienstleistungsengineering explizit Dienstleistungen als Gestaltungsobjekt.

Definition und Charakterisierung[Bearbeiten]

Dienstleistungsengineering bezeichnet das systematische Entwerfen und Entwickeln von Dienstleistungen unter Verwendung von Methoden, Konzepten, Modellen und Werkzeugen, und kann somit als wichtiges Teilsegment der Dienstleistungsforschung oder Service Science angesehen werden.[1] Ziel des Dienstleistungsengineerings ist eine Industrialisierung von Dienstleistungen, d.h. einen ähnlichen Anstieg für Produktivität, Qualität und Wachstum von Dienstleistungen zu erreichen, wie zu Zeiten der industriellen Revolution in Bezug auf die Produktion von Gütern realisiert wurde. Hierbei sind eine intelligente IT-Unterstützung, strukturierte Entwicklungsmethoden, Prozessgestaltung und Kundenintegration essentielle Treiber. Gegenstandsbereich des Dienstleistungsengineerings sind jegliche Arten von Dienstleistungen (es ist damit eine Teilmenge des Service Engineerings und umfasst den Teil, der sich mit Dienstleistungen per se beschäftigt, also explizit auch Dienstleistungen, die einen hohen Anteil personenbezogener Aktivitäten besitzen bzw. auch komplett ohne Technikeinsatz erbracht werden). Zentrale Gestaltungselemente im Dienstleistungsengineering ist die Dienstleistungsprozess- und die Dienstleistungsergebnisgestaltung, wobei auf die Realisierung von IT-Potenzialen sowie die damit einhergehende Standardisierung und (Teil-) Automatisierung einzelner Aktivitäten besonderes Augenmerk gelegt wird.

Relevanz und Anwendungsbereiche[Bearbeiten]

Dienstleistungen entwickeln sich zum zentralen Handlungsfeld postindustrieller Volkswirtschaften. Dieses Phänomen wird als Tertiärisierung bezeichnet. Mehr als 70% der Erwerbstätigen in Deutschland werden dem Dienstleistungssektor zugerechnet. Zudem hat dieser Sektor seit 1970 einen erheblichen Anstieg an Erwerbstätigen erfahren, mit 2013 mehr als 73% aller Beschäftigten.[2] Angesichts dieser stark gewachsenen Bedeutung gilt es, technischen Fortschritt so beschleunigen und zu nutzen, dass große Produktivitäts- und Qualitätsgewinne bei Dienstleistungen für alle Anspruchsgruppen (Leistungserbringer und Leistungsempfänger) möglich werden. Die Informations- und Kommunikationstechnologie (IT) nimmt im Dienstleistungsengineering eine zentrale Rolle ein. Zu den Potenzialen, die durch den intelligenten IT-Einsatz realisiert werden können, gehören bspw. die Standardisierung, die Prozess-Unterstützung und die Automatisierung bzw. Teilautomatisierung von Dienstleistungen.[3] Darüber hinaus eröffnet IT neue Möglichkeiten der Kooperation, Koordination und Kommunikation entlang von Dienstleistungsprozessen, und insbesondere die intelligent umgesetzte Kundenintegration bietet Qualitäts-, Innovations- und Produktivitätschancen. IT kann deshalb erheblich zum Wachstum und einer menschgerechten Industrialisierung des Dienstleistungssektors beitragen. In einigen Bereichen des Dienstleistungssektors ist der IT-Einsatz schon weit fortgeschritten, bspw. im Handel, in der Logistik, oder im IT-Service-Management. In anderen Bereichen, bspw. im Bereich von personenbezogenen Dienstleistungen (u.a. im Gesundheitswesen, öffentliche Verwaltung oder im Bildungswesen), werden IT Potenziale allerdings bisher noch wenig bis gar nicht realisiert. Dienstleistungsengineering ist zudem ein zentrales Querschnittsthema der Hightech-Strategie der deutschen Bundesregierung (http://www.hightech-strategie.de/de/114.php), mit Ihren Bedarfsfeldern Klima/Energie, Gesundheit/Ernährung, Mobilität, Sicherheit und Kommunikation. Aktuelle Anwendungsfelder sind u.a. das Bildungswesen, Dienstleistungen zum Erhalt von Lebensqualität, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit, neue Mobilitätskonzepte, Energieversorgung, Gesundheit und Ernährung. Fortschritte im Dienstleistungsengineering führen zu Innovationen z.B. in der Telemedizin, im E-Learning / Blended Learning (Integriertes Lernen) oder der E-Mobility. Durch die zunehmende Tertiärisierung (Dienstleistungsgesellschaft) findet das Dienstleistungsengineering letztendlich jedoch in fast allen Branchen und Industrien Anwendung.

Methodenvielfalt des Dienstleistungsengineering[Bearbeiten]

Das Dienstleistungsengineering umfasst den gesamten Lebenszyklus einer Dienstleistung, d.h. von der Strategieentwicklung über Service Design, Modellierung, Implementierung hin zum Betrieb und kontinuierlichen Verbesserungsprozessen. Methoden des Dienstleistungsengineering setzen u.a. an Methoden und Konzepten des Service Engineerings, des Dienstleistungsmarketing, der Prozessmodellierung, der systematischen Kundenintegration sowie der IT-Innovationsentwicklung an. Eine stärkere Integration von IT in Dienstleistungen macht es bspw. notwendig, Theorien und Methoden aus der Human Computer Interaction im Dienstleistungsengineering zu verwenden, wie z.B. Prototyping, und auf Dienstleistungen anzupassen. Auch in der Prozessmodellierung etablierte Konzepte wie BPMN oder UML werden zunehmend im Dienstleistungskontext verwendet und weiterentwickelt.

Dienstleistungsengineering als Forschungsgegenstand[Bearbeiten]

Die Dienstleistungsforschung, zu der das Dienstleistungsengineering gehört, hat in Wissenschaft und Praxis deutlich an Bedeutung gewonnen. Insbesondere das Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Innovationen mit Dienstleistungen“ des Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert die Dienstleistungsforschung und setzt sich als Leitmotiv, den Dienstleistungsbereich auf ähnliches Exzellenzniveau zu bringen, wie es Deutschland im Bereich der industriellen Produktion auszeichnet. Aufgrund der Methodenvielfalt des Dienstleistungsengineering kann es als interdisziplinäres Forschungsfeld angesehen werden und bedient sich Theorien und Methoden unterschiedlichster Disziplinen wie z.B. den Wirtschaftswissenschaften, der Wirtschaftsinformatik, den Ingenieurswissenschaften, der Informatik, sowie den Arbeits- und Sozialwissenschaften. Der Erkenntnisfortschritt im Dienstleistungsengineering ist in verschiedenen Bereichen jedoch unterschiedlich weit entwickelt. Dies ist abhängig vom Reifegrad der angewendeten Methoden und der Anwendbarkeit auf verschiedene Arten von Dienstleistungen. Insbesondere bei wissensintensiven Dienstleistungen, Dienstleistungen mit einem hohen Anteil personenbezogener Aktivitäten sowie sehr individuellen Dienstleistungen haben die anzuwendenden Methoden noch ein erhebliches Entwicklungspotenzial.[4]

Ursprünge und verwandte Gebiete[Bearbeiten]

Im angloamerikanischen Raum erschienen in den 1980er Jahren erste wissenschaftliche Arbeiten zu Service Design und New Service Development. Diese Forschungsergebnisse haben sich aus dem Forschungsgebiet des Dienstleistungsmarketings entwickelt und sind stark hierdurch geprägt.[5][6] Demgegenüber hat sich in Deutschland seit den späten 1990ern der Begriff des Service Engineering durchgesetzt. Service Engineering bezeichnet die systematische Entwicklung und Gestaltung von Dienstleistungen unter Verwendung geeigneter Vorgehensmodelle, Methoden und Werkzeuge. Im Gegensatz zum stark marketinggeprägten New Service Development zielt Service Engineering auf eine sinnvolle Übertragung von Methoden und Theorien der klassischen Softwareentwicklung und Produktentwicklung auf die Entwicklung von Dienstleistungen.[7] Seit den 2000er Jahren hat sich, stark geprägt und gefördert durch das Unternehmen IBM, zudem das Forschungsfeld Service Science, Management and Engineering (SSME) gebildet. SSME stellt interdisziplinäre Ansatz für die Gestaltung, Entwicklung, Einführung und den Betrieb von Dienstleistungssystemen dar, und fokussiert sich dementsprechend deutlich auf Dienstleistungssysteme, Dienstleistungsarchitekturen und IT-Services.[8] Das Dienstleistungsengineering bedient sich Theorien und Methoden dieser Strömungen, integriert aber weitere Forschungsbereiche. Während das Service Engineering und insb. SSME einen starken Fokus auf technische Dienstleistungen haben, adressiert das Dienstleistungsengineering in erster Linie klassische Dienstleistungen, indem es u.a. auch Theorien und Methoden der Arbeits- und Sozialwissenschaften oder der Human Computer Interaction in die Dienstleistungsentwicklung integriert. Die technische Entwicklung von Software Services oder IT-Dienstleistungen ist hingegen im Gegensatz zum SSME und zum Service Engineering nicht Teil des Dienstleistungsengineerings.[9][10]

Siehe auch[Bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten]

  • Reichwald, Ralf, Robert Goecke, und Susanne Stein (2000). Dienstleistungsengineering. Verlag TCW Transfer-Centrum.
  • Chesbrough, H. & Spohrer, J. (2006). A Research manifesto for service science. Communications of the ACM, 47, 35-40.
  • Edvardsson, B. und Olsson, J. (1996.) Key concepts for new service development. The Service Industries Journal, 16, 140-164.
  • Böhmann, T.; Burr, W.; Herrmann, T.; Krcmar, H. (2011). Implementing International Services. Gabler: Wiesbaden.
  • Bullinger, H.-J.; Scheer, A.-W. (2006): Service Engineering: Entwicklung und Gestaltung innovativer Dienstleistungen. 2. Auflage. Berlin: Springer.
  • Fitzsimmons, James, and Mona Fitzsimmons. (2006) Service management: Operations, Strategy, Information Technology. McGraw-Hill Higher Education.
  • Krcmar, H.; Böhmann, T.; Sarkar, R. (2010). Export und Internationalisierung wissensintensiver Dienstleistungen. Lothmar: Lang Verlag.
  • Leimeister, J.M. (2012): Dienstleistungsengineering und –management. Berlin: SpringerGabler.
  • Lovelock, C. H. & Wirtz, J. (2011). Services marketing : people, technology, strategy. Boston: Prentice Hall.
  • Maglio, P. P., Kieliszewski, C. A., & Spohrer, J. C. (2010). Handbook of Service Science. New York: Springer.
  • Grönroos, C. (2007). Service Management and Marketing. Chichester: Wiley.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Buhl, H.; Heinrich, B.; Henneberger, M.; Krammer, A. (2008): Service Science. In: Wirtschaftsinformatik, Vol. 50 (2008) Nr. 1, S. 60-65.
  2. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/lrerw013.html
  3. Luczak et al. (2006): Service Engineering industrieller Dienstleistungen, in Bulliger, H.-J/Scheer A-W (Hrsg.): Service Engineering. Entwicklung und Gestaltung innovativer Dienstleistungen, 2. Auflage, Springer (Berlin), S. 443-462.
  4. Menschner, P., Peters, C., & Leimeister, J. M. (2011). Engineering knowledge-intense, personoriented services – a state of the art analysis. ECIS 2011 Proceedings.
  5. Chesbrough, H. & Spohrer, J. (2006). A Research manifesto for service science. Communications of the ACM, 47, 35-40.
  6. Maglio, P. P., Kieliszewski, C. A., & Spohrer, J. C. (2010). Handbook of Service Science. New York: Springer.
  7. Bullinger, H.-J.; Scheer, A.-W. (2006): Service Engineering: Entwicklung und Gestaltung innovativer Dienstleistungen. 2. Auflage. Berlin: Springer.
  8. Hefley, B., & Murphy, W. (2008). Service science, management and engineering. Series: Service Science: Research and Innovations in the Service Economy. New York: Springer.
  9. Leimeister, J.M. (2012): Dienstleistungsengineering und –management. Berlin: SpringerGabler.
  10. Reichwald, Ralf, Robert Goecke, und Susanne Stein (2000). Dienstleistungsengineering. Verlag TCW Transfer-Centrum.

Weblinks[Bearbeiten]

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