Der Einfall und die Freiheit (Buch)

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Das Buch Der Einfall und die Freiheit wurde im Frühjahr 2012 von Andreas Eisenrauch im Norderstedter Verlag Books on Demand veröffentlicht. Nach der Veröffentlichung von drei weiteren Auflage mit Korrekturen und Verbesserungen erschien im März 2018 eine erweiterte fünfte Auflage. In diesem Buch hinterfragt der Autor die in der Diskussion um die menschliche Willensfreiheit wie ein Dogma unterstellte Behauptung, dass unser alltägliches Erleben die sichere ("unhintergehbare")[1] Grundlage einer Freiheitsintuition sei. Er präsentiert und diskutiert dagegen zahlreiche lebensweltliche Phänomene, die dem widersprechen und welche, ernstgenommen, zu dem Schluss führen müssen, dass alle geistigen und mentalen Eigenschaften die Epiphänomene der Gehirnaktivität sein müssen. Allerdings widerspricht er der gängigen Schlussfolgerung vieler Philosophen, dass eine Festlegung unserer Gedanken und Entscheidungen durch unsere Gehirne in einen Zustand von "Unfreiheit" führen müsste. Demgegenüber argumentiert er, dass das Gehirn der eigentliche Verwalter der einzig sinnlich-physisch erworbenen Lebenserfahrung eines jeden Menschen sei. Durch die Steuerung des Menschen und seiner Gedanken durch das Gehirn wird geradezu sicher gestellt, dass der Mensch nur gemäß seiner Gründe handelt.


Lebensweltliche Indikatoren für Unfreiheiten im menschlichen Denken[Bearbeiten]

Der menschliche Wille ist das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, dessen freie Durchführbarkeit von Hirnforschern bestritten wird. Die Verteidiger der Willensfreiheit führen an, dass es eine Freiheitsintuition gibt, die sich aus der Beobachtung unseres lebensweltlichen Handelns ergibt. Die Wirklichkeit liefert aber deutliche Hinweise auf die Unfreiheit des Denkens und Entscheidens, die sich unter dem Begriff des "Einfalls" zusammenfassen lassen, den ein Mensch haben muss, aber nicht herbeiführen kann.

Ein Gedanke, der nicht "von selbst" einfällt, kann nicht gedacht werden, er ist faktisch inexistent, selbst wenn er "auf der Zunge liegt", wenn man also weiß, dass das, woran man denken müsste, eigentlich bekannt, behalten und verfügbar ist. Das ist nicht nur in Ausnahmesituationen so. In unserem alltäglichen Gedankenstrom (siehe beispielsweise die Bewusstseinsströme in dem Roman „ Ulysses“ von James Joyce) ruft kein Gedanke den nächsten auf, sie folgen unwillkürlich aufeinander. Wenn Gedanken aktiv gedacht werden könnten, dann müsste aber "in Gedanken" darüber entschieden werden, welcher der oft vielen möglichen Folgegedanken nun gedacht werden soll. Solche Entscheidungen fällen wir aber nicht. Daher erleben wir Einfälle, die uns gelegentlich selbst überraschen, oder wir warten vergebens darauf, dass uns etwas Wichtiges einfällt.

Zudem ist es möglich, dass wir von einem Augenblick zum nächsten vergessen, was wir gerade gedacht haben (beispielsweise wenn man in einen anderen Raum geht und plötzlich vergessen hat, was man dort tun wollte). Jegliches Vergessen ist ein ungewolltes Widerfahrnis, das nicht bewusst beeinflusst werden kann. Jeder Mensch, dem es passiert, muss es ohnmächtig erleiden. Wenn man etwas vergessen hat, ist es aus dem Sinn, als hätte man es nie gewusst, es kann nur durch einen erneuten Einfall wieder bewusst und gewusst werden. Vorher weiß man nichts davon. Dass das Vergessen keine bewusste Aktivität ist, sondern passiv erlitten wird, zeigt insbesondere der Vergleich mit dem Verstecken. Beim bewusst durchgeführten Verstecken, weiss man, von wo man das Nicht-mehr-Vorhandene wieder herbekommt (bis man womöglich unfreiwillig vergisst, wo sich das Versteck befindet); beim erlittenen Vergessen ist das nicht der Fall. Was vergessen wurde, muss "von selbst" wieder einfallen.

Unsere gewachsene Sprache kennt deshalb den Begriff des Einfalls. Der angeblich handelnde, bewusste Mensch, der sagen muss: "etwas fällt mir (nicht) ein" erscheint hierbei zwingend passiv und im Dativ. Wäre es möglich, dass wir unsere Gedanken aktiv herbeiführten, dann würden wir auch den Begriff "Aufruf" oder vergleichbare Ausdrücke dafür zur Anwendung bringen.

Die Inhalte des Bewusstseins, des Denkens und Entscheidens kommen und gehen auf nicht bewusst zu kontrollierende Weise. Es ist tatsächlich nicht möglich, dass ein Mensch sich seine Gedanken im Zuge bewusster Aktivitäten "macht". Das ganze Bewusstsein ist ein Strom unbewusst entstehender Gedanken. Es muss also einen unbewusst wirkenden "Agenten" geben, der zumeist die Herausforderungen, mit denen sich ein Mensch konfrontiert sieht, mit den richtigen Reaktionen beantwortet und seine Antworten als Einfälle bewusst werden lässt und diese Einfälle wieder auslöschen kann. Wenn er aber gelegentlich nicht die lebensweltlich richtigen Reaktionen generiert, wird dies oft nicht bemerkt, und es kann nicht aktiv korrigiert werden.

Es gibt viele Hinweise darauf, dass dieser Agent das Gehirn sein muss, das der umfassende "Verwalter" der Lebenserfahrungen eines jeden Menschen ist. Die "Verwaltung" umfasst die selbstorganisierte Speicherung neuer Sinnesdaten: wir müssen uns etwa einen Weg, den wir das erste Mal gehen, nicht durch eine bewusste "Behaltens-Handlung" merken, und wir können dadurch auch nicht bewusst unterdrücken, dass wir uns etwas merken. Der unbewusst wirkende "Verwalter" sorgt dafür, dass neu ankommende Sinnesdaten mit behaltenen früheren Erfahrungen assoziiert werden und führt die Generierung körperlicher Antworten (in etwa Handlungen) durch, die unmittelbar vom Bewusstsein dieser eigenen Antworten in der Form von Einfällen begleitet werden. Lernen erfolgt durch die erfahrungsabhängige Stabilisierung bestimmter neuronaler Verschaltungen. Die Fluktuationen in der Gehirnaktivität führen zu unserer fluktuierenden Vorstellungswelt, in der uns aus der (Neu-)Kombination von neuronal repräsentierten Erfahrungen dauernd neue Einfälle generiert werden. Eine aus konventioneller Sichtweise begründete Handlung ist eine Abfolge von komplexen Reaktionen auf komplexe Folgen von Reizmustern.

Wichtige Folgerungen in aller Kürze[Bearbeiten]

Einfälle von Gedanken sind die sichtbaren Anzeichen für die eigenständigen Prozesse in den Gehirnen. Die Existenz der Einfälle macht die Freiheitsintuition zu einer von der Lebenswelt und der lebendigen Sprache gestützten Unfreiheitsintuition. Dieses Erleben der Unfreiheit seinen Gedankenstrom zu steuern ist eine von naturwissenschaftlichen Befunden (Dritte-Person-Perspektive) unabhängige Wahrnehmung der Person selbst (Erste-Person-Perspektive).

Die Entwicklung einer Persönlichkeit geht einher mit der Entwicklung der neuronalen Verschaltungen, in der die Historie eines Menschen persistiert. Im Verbund zahlloser Neuronen mit räumlich und zeitlich differenzierten Aktivitätsmustern lassen sich eben unzählige erlebte Sinnesszenarien aufbewahren und in Beziehung setzen. Daraus ergibt sich auch geradezu selbstverständlich, dass der Organismus/Mensch, dem das Gehirn gehört, lebensweltliche „wahr/unwahr“ Unterscheidungen behalten und in Entscheidungssituationen abrufen kann. "Wahr" ist allerdings für den Menschen nur das, was sich im lebensweltlichen Umgang mit den Dingen und den anderen Menschen bewährt hat. Die Wahrheiten werden dem Gehirn allein durch die sinnlichen Zuflüsse aufgeprägt, indem sie die Verschaltungen des Gehirns strukturieren, ohne dass die Neuronen selbst ein Verständnis der lebensweltlichen Zusammenhänge haben müssen.

Die Offenheit der Zukunft beruht auf Unwissenheit, nicht auf Freiheit. Wir wissen weder, was uns als nächstes von außen zustößt, noch was uns als nächstes einfällt, weil wir die Vorgänge, die zu den Einfällen und ins Vergessen führen, nicht kontrollieren.

Es gibt keine mentale Verursachung, dazu müssten wir wissen, wo genau und wie wir absichtlich im Gehirn einzugreifen hätten, um beispielsweise gezielt den rechten und nicht den linken Arm zu heben. Darüber hinaus, müsste die Fähigkeit zu mentaler Verursachung im Gehirn, es jedem Menschen ermöglichen, der an Epilepsie leidet, diese außerordentlichen Aktivitäten von Neuronen einfach nur durch "Wollen" zu unterdrücken. Es gibt darüber hinaus keine Erklärung von Verfechtern mentaler Verursachung dafür, warum das Gehirn allein sensitiv für geistige Anstöße sein sollte. Wenn mentale Verursachung in der Materie des Körpers möglich sein soll, dann müssten auch andere Körperteile willentlich zu beeinflussen sein. Nichts dergleichen ist lebensweltlich der Fall[2].

Das Gelingen von Handlungen ist abhängig von den Einfällen, welche die handelnde Person hat. Wenn ein wichtiger Grund nicht einfällt, wird eine falsche Handlung ausgeführt, ohne eine Möglichkeit zu bewusstem Eingreifen. Irrtum entsteht physiologisch dadurch, dass das Gehirn gleichzeitig sehr viele Kontexte verwaltet, die sich manchmal gegenseitig stören, da sie um die selben Elemente des physischen Verwaltungsapparats konkurrieren. Lebensweltlich entsteht Irrtum dadurch, dass die Menschen keine bewusste Kontrolle über ihre Gründe ausüben können.

Die Unmöglichkeit aktiv Einfälle zu erzeugen macht das Bewusstsein zum Epiphänomen körperlicher Prozesse. Dieser Epiphänomenalismus ist die eigentliche Dimension der Unfreiheit. Bewusstsein ist das interne Gewahrsein der Verwaltung der persönlichen Erfahrungen.

Der Dualismus Gehirn/Geist lässt sich nicht lösen, bzw. der Geist lässt sich auch jetzt nicht auf die Materie reduzieren. Die Einfälle und das Vergessen, die Beobachtung der Gedankenströme implizieren aber, dass es nur eine (die körperliche) Entität gibt, in der Prozesse ablaufen, es herrscht in einem Lebewesen ein faktischer Monismus.

Der Urheber unserer Entscheidungen ist der wirkliche Verwalter unserer Erfahrungen; wenn unser Gehirn etwas entscheidet, dann ist das gleichbedeutend damit, dass wir entsprechend unserer persönlichen Gründe entschieden haben. Die Bestimmung des Gedankenstroms einschliesslich der Abwägungen und Entscheidungen eines Menschen durch den materiellen Verwalter seiner Erfahrungen ist gerade keine Fremdbestimmung, sondern die einzige belastbare Grundlage für persönliche Urheberschaft. Freiheit und gleichzeitige Abwägung von Gründen sind ein Widerspruch, denn Freiheit heißt, dass Gründe jederzeit übergangen werden könnten. Dann sind Abwägungen sinnlos und die Entscheidungen und Handlungen sind von den persönlichen Gründen abgekoppelt.

Denken ist keine Eigenschaft des ganzen Menschen, sondern auf das Gehirn konzentriert. Die mentalen Eigenschaften gehen nicht auf physikalische Eigenschaften der Materie zurück, sondern auf die spezifische Anordnung der materiellen Elemente des Körpers, die das Ergebnis der Historie der physisch aufgenommenen Sinneswahrnehmungen dieses Organismus ist. Die Individualität jedes Gehirns führt dazu, dass niemals auf der Welt zwei Gehirne in dem gleichen Zustand sind. Da die bewusste Person aus den Prozessen in der materiellen Welt entsteht, und nicht auf die Materie zurückwirken kann, ist es gleichgültig, ob diese Prozesse naturgesetzlich determiniert sind oder nicht.

Die Grundlage für Moral und Verantwortung ist nicht Freiheit, sondern Erfahrung, da die persönliche Erfahrung die Handlungen bestimmt. Beide können von einem unbewusst und selbstorganisiert wirkenden Gehirn verwaltet werden, ohne Abstriche bei der Verantwortlichkeit machen zu müssen. Strafen machen nur Sinn, wenn dadurch (oder durch deren glaubwürdige Androhung) der Erfahrungsschatz eines Menschen so modifiziert werden kann, dass er in Zukunft vermehrt moralisch reagieren wird. Freien Menschen gegenüber sind moralische Lehren sinnlos, da sie nie gemäß ihrer Gründe handeln müssen.

Menschenwürde beruht nicht auf einem Mehr oder Weniger an Freiheit, sondern auf der Gleichheit aller Menschen, einschließlich dessen, dass wir alle gleich unfrei sind.

Unser Handeln basiert nicht auf "Freiheit", sondern auf "Lernfähigkeit" und auf der Fähigkeit des Gehirns zu selbstorganisierter Verwaltung des Gelernten.

Zitate[Bearbeiten]

„Wenn wir denken, wissen wir nie, ob das, was wir denken, schon alles ist, was wir denken könnten!“ (S. 29)

„Eine bewusste Person, die nur hoffen kann, dass ihr im Bedarfsfall wirklich alle ihr eigenen Gründe für oder gegen eine Entscheidung einfallen, die hingegen fürchten muss, dass sie einmal gefasste Entscheidungen wieder vergisst, und das alles im Zweifelsfall nicht durch aktive Interventionen beeinflussen kann, ist nicht frei.“ (S. 30)

„Die Initiative der Urheberschaft des Willens eines Individuums bleibt demnach immer bei der Entität, welche die Erfahrungen der Historie dieses Individuums bewahrt und verwaltet, daran ändert sich naheliegenderweise nichts. Es handelt sich hierbei aber nicht um die oberflächlich sichtbare Person des Menschen, sondern um den unsichtbar wirkenden Agenten, der abwägt und entscheidet. Wir haben nach all den oben gemachten Ausführungen keinen Zweifel, dass diese Entität das Gehirn ist, welches auf dem Wege der erfahrungsabhängigen Selbstorganisation diese Leistungen erbringt.“ (S. 176)

„Die zahllosen Beispiele für Verletzungen der Menschenwürde in der Menschheitsgeschichte haben allesamt gemein, dass zunächst die grundsätzliche Gleichheit von Gruppen oder von Einzelpersonen bestritten wurde, gefolgt oder unmittelbar begleitet von entwürdigenden Diskriminierungen und Repressalien. [...]

Menschenwürde entsteht also aus der fundamentalen Gleichheit aller Menschen und aus der potentiellen Partnerschaft eines jeden Menschen für jeden anderen.“ (S. 269)

„Keine Person kann „ihr praktisches Urteil von einer Abwägung einschlägiger Gründe abhängig machen[3]“, denn ihr „kognitiv ausschlaggebender Grund“ für eine Entscheidung fällt ihr unter Umständen erst ein, wenn bereits die Folgen einer falschen Entscheidung eingetreten sind und man feststellt, dass Wichtiges nicht berücksichtigt wurde, weil es nicht berücksichtigt werden konnte.“ (S. 276)

Literatur[Bearbeiten]

  • Jürgen Habermas: Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit. In: Peter Janich (Hg.): Naturalismus und Menschenbild, Deutsches Jahrbuch Philosophie 1.2008. Hamburg, Meiner; S. 15-29
  • Andreas Eisenrauch: Der Einfall und die Freiheit: Lebensweltliche Indikatoren der Unfreiheit menschlichen Denkens. Books on Demand, Norderstedt 2012, ISBN 978-3-8482-0487-8.
  • Peter Janich: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung. (edition unseld Nr. 21) Suhrkamp, Frankfurt 2009, ISBN 978-3-518-26021-0.
  • James Joyce: Ulysses. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004. ISBN 3-518-41585-9

Weblinks[Bearbeiten]

Varia[Bearbeiten]

Die fünfte Auflage des Buch umfasst 316 Seiten (Vorrede und 14 Kapitel), 324 Fußnoten und 114 zitierte Werke anderer Menschen. Es ist auch als E-Book erhältlich.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Hochspringen Peter Janich (2009): "Die Lebenswelt mit ihrer Alltagssprache und mit ihrer sozialen Praxis ist durch die Wissenschaft unhintergehbar."
  2. Hochspringen Zum Beispiel müsste man dann das Wachstum des Körpers so lange fortsetzen können, bis man eine erwünschte Körpergröße erreicht hat. Die Heilung von Wunden oder der Einsatz des Immunsystems gegen Infektionen sollte dann ebenfalls kein Problem sein, weil die Körperzellen, die hierzu aktiv sein müssen, mental aktiviert werden könnten. So wenig, wie wir die letzteren Komponenten unseres Körpers "im Griff" haben, so wenig haben wir die Fähigkeit Neuronen zu steuern; sie vollziehen ihre Funktionen im Verbund des sich selbst organisierenden Körpers.
  3. Hochspringen Habermas (2008): „Erst unter dem Rechtfertigungsdruck moralischer Vorwürfe wird retrospektiv klar, was unsere Gesellschaft von einer reflektierten Ausübung der Willensfreiheit erwartet. Die handelnde Person soll sich
    • des Umstandes bewusst sein, dass sie in einem kulturell umschriebenen "Raum der Gründe" steht und für Gründe pro und contra empfänglich ist;
    sie soll
    • ihr praktisches Urteil von einer Abwägung der einschlägigen Gründe abhängig machen; und
    • sich den kognitiv ausschlaggebenden Grund als Aktor auch zu eigen machen. [...]".
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