Adultum
Adultum ist die Neutrumform des Adjektivs adult (lateinisch adultus: erwachsen), welches primär das biologische Stadium der Geschlechtsreife in den Blick nimmt und im angelsächsischen Sprachgebrauch generell für Erwachsener steht, intendiert als Epochenbegriff die emanzipatorischen Fähigkeiten und Kenntnisse des Erwachsenwerdens in gesellschaftlicher Hinsicht. Diese lassen sich im Anspruch von politischer Bildung mit Verantwortung und Mündigkeit zusammenfassen.
Der so in der Tradition der Aufklärung stehende Epochenbegriff wurde 2012 durch die Schrift „Adultum – Zeitalter erwachsen werdender Weltbürger“[1] in die Debatte um die Benennung der Zeit nach der Moderne eingebracht. In Analogie zum individuellen Erwachsenwerden wird dort mit dem politischen Narrativ „Adultum“ nicht nur auf das Ende des quantitativen Wachstums und des Fortschrittsglaubens Bezug genommen, sondern auch auf die globalen ökologischen und ökonomischen Krisen der gegenwärtigen Epoche, für die es notgedrungen Verantwortung zu übernehmen gilt.
Inhaltsverzeichnis
Ende des Wachstums[Bearbeiten]
Ein Vergleich zwischen individuellem Heranwachsen (Ontogenese) und gesellschaftlichen Wachstumsprozessen (Phylogenese) ist wegen der Gefahr eines geschichtsphilosophischen Determinismus nicht unproblematisch. In einer analogen Sichtweise ist es aber aufschlussreich, auf die inhaltliche Ähnlichkeit zwischen dem Ende des körperlichen Wachstums und dem sich gegenwärtig aus ökologischer Sicht immer deutlicher abzeichnenden Grenzen des Wachstums[2] hinzuweisen. Aber auch die ähnlichen Erwartungshaltungen einerseits bezüglich des nach der Adoleszenz angenommenen Zuwachses an charakterlicher Reife und andererseits bezüglich der aktuellen Einsicht in die Notwendigkeit eines Umstiegs auf qualitatives Wachstum – wie es z.B. die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität in ihrem Abschlussbericht 2013 (mehrheitlich) empfiehlt[3] – lassen die Bezeichnung „Adultum“ für einen solchen Schritt ins Erwachsenen(zeit)alter plausibel erscheinen.
Weil die herrschenden Produktions- und Lebensweisen industrialisierter Gesellschaften die Tragfähigkeit der Erde überfordern, wird allenthalben der Umstieg von quantitativem auf qualitatives Wachstum gefordert. Nach Meinung von Meinhard Miegel hat „der Organismus, der während vieler Jahre beständig wuchs, nunmehr diese Phase hinter sich gelassen und ist eingetreten in die Phase der Reifung, des Um- und Ausbaus. Damit ist er weiterhin vital und aktiv. Aber seine Vitalität und Aktivität manifestiert sich anders als in der Vergangenheit. An die Stelle vorrangig quantitativer Veränderungen treten vermehrt qualitative“.[4] Das globalisierungskritische Netzwerk Attac macht in dem Buch mit dem 'Titel „Ausgewachsen!“ deutlich, dass das Ende des unbegrenzten Wachstums auf einem endlichen Planeten kommt, dass es lediglich darum geht, ob es katastrophisch hereinbricht oder politisch bewusst gestaltet wird.[5]
Fortschrittsglauben und Stufentheorien[Bearbeiten]
Das neuzeitliche Denken ist geprägt von einer optimistischen Grundstimmung des Fortschritts und Aufstiegs, die sich auf Technik und Wissenschaft bezog und besonders auch auf Entwicklungsstadien der Menschheit. So definierte z.B. Hegel Geschichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, der in einem dialektischen Prozess vonstatten geht, und unterschied drei Perioden, welche aufeinander folgen wie die Lebensperioden eines Menschen.[6] Stufentheorien entstanden in unterschiedlichen Kontexten und hatten meist ein „Reifestadium“ zum Ziel. Im politischen Bereich war diesbezüglich z.B. der Marxismus von großer Bedeutung. Als neoliberale Modernisierungstheorie postulierte u.a. Walt Rostow als vorletztes der von ihm konzipierten „Wachstumsstadien“ die „Entwicklung zur Reife“.
Wurden diese auf die Gesellschaft bezogenen Theorien wegen ihres Determinismus zunehmend einer grundsätzlichen Kritik unterzogen, behielten die Stufentheorien in den auf das Individuum bezogenen Entwicklungstheorien weitgehend ihre Bedeutung. Zu nennen sind hier z.B. die Stufenmodelle der psychosozialen Entwicklung von Erik Erikson, der kognitiven Entwicklung von Jean Piaget und der moralischen Entwicklung von Lawrence Kohlberg. Aber auch hier wurde zunehmend der Wert des Aufstiegs zu Höherem zu Gunsten des Eigenwerts der unteren Stufen relativiert und die Begrenztheit als anthropologisches Konstitutiv anerkannt.
Erwachsen Gewordene geben sich vor allem auch dadurch zu erkennen, dass sie mit Erfahrungen von Schwächen und Misserfolgen umgehen können und dass sie sich nicht auf Fortschrittsszenarien oder quantitative Wachstumsmodelle fixieren.
Nach der Moderne[Bearbeiten]
Die große Erzählung vom grenzenlosen Fortschritt, die als das Charakteristikum der Moderne gelten kann, implizierte den Glauben an instrumentelle Rationalität und die Naturwissenschaften. Diese „adoleszente“ Verabsolutierung wurde durch die Einsichten in die Dialektik der Aufklärung in Frage gestellt und spätestens durch die Schrecken des 20.Jahrhunderts desavouiert. Trotzdem war die Moderne aber auch stark vom Mut zur Mündigkeit der Aufklärung beeinflusst und nach Jürgen Habermas durch Subjektivität, Individualismus, Recht der Kritik, Autonomie des Handelns und die idealistische Philosophie geprägt.
Dies wurde von der postmodernen Kritik, welche vor allem die Möglichkeiten einer Vielfalt gegen die fortschrtittsgläubigen „Gewissheiten“ setzte, zu wenig wertgeschätzt. Deshalb wurden von Ulrich Beck und anderen Termini wie “Zweite Moderne“ oder „Reflexive Moderne“ ins Spiel gebracht. Damit wollte man nicht nur den Ausbruch aus dem kategorialen Rahmen der Insustriegesellschaft, die Digitale Revolution und die Unrevidierbarkeit der entstandenen Globalität herausstellen, sondern auch aufzeigen, dass die Charakteristika der Moderne inzwischen eine radikalisierte Form angenommen haben, die große Risiken erzeugen.[7]
Nach Meinung von Hartmut Rosa geht das Projekt der Moderne wegen ihres Wachstums- und Beschleunigungszwangs zu Ende. Und trotzdem: Obwohl für ihn unklar bleibt, wer der politische Träger einer notwendigen Entschleunigungspolitik sein könnte, spricht er sich am Ende seines Werkes[8] – Bourdieu zitierend – gegen eine bloße Feststellung der Soziologie aus, „die deterministisch, pessimistisch oder demoralisierend genannt werden darf“.
Ein Narrativ für Erwachsene[Bearbeiten]
Nach Meinung von Bodo von Borries hat sich die Einsicht im Alltag noch nicht durchgesetzt, „dass Historie jeweils ein mentales Konstrukt in narrativer Struktur und perspektivischer Begrenztheit bedeutet“.[9] So wie in der Vergangenheit liegende Ereignisse zu einer zusammenhängenden Erzählung, zu einem bestimmten Narrativ verknüpft werden, zwangsläufig eine Konstruktion sind und je nach Standpunkt und Herangehensweise unterschiedlich ausfallen[10] sind auch die Beurteilung der Gegenwart und die Erwartungen bezüglich der Zukunft narrativ strukturiert und perspektivisch begrenzt.
Angesichts der Herausforderungen 21. Jahrhunderts sind nicht nur fundierte Analysen erforderlich, sondern ebenso notwendig sind Hoffnungs-Geschichten. Harald Welzer fordert dazu auf, gegen die stupide Wirklichkeit von gelungenen Projekten zu erzählen: „Solche Geschichten über Realexperimente einer anderen Wirklichkeit sind anschaulicher und können mehr Motivation zur Veränderung wecken als 42 Bücher über Klimawandel.“[11] So wie in der Krise des alten Kontinents ein neuer „europäischer Narrativ“ gefordert wird, der die Nationalgeschichten in einer gesamteuropäischen Erzählung aufhebt,[12] sind auch Erzählungen notwendig, welche globale Aspekte in den Blick nehmen.
Das Buch „2052. Der neue Bericht an den Club of Rome" (München 2012) kommt als „Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre“[13] zu einem bedrohlichen Zukunftsszenarium. Der Umverteilungskampf wird zunehmen. Es wird weiter optimiert, aber vor allem für uns und unsere Kinder. Unsere Enkel werden es schwer haben, weil das Wachstum nicht rechtzeitig genug gestoppt werden wird. Für die kommenden Generationen sind Katastrophen voraussehbar.[14] Dieser Bericht macht zwar auch Vorschläge, wie der einzelne auf die sich abzeichnenden Entwicklungen reagieren sollte; trotzdem wird er von Rezipienten aus mehreren Gründen als zu pessimistisch kritisiert, so z.B. weil der gerade stattfindende Wertewandel vom rein ökonomischen zum nachhaltigen Denken im Bericht zwar angesprochen, aber nicht in die Rechenmodelle aufgenommen wurde.[15]
Der hier mit dem Epochenbegriff „Adultum“ intendierte Narrativ kann mit Bezug auf Susan Neimann insofern als „erwachsener Idealismus“ bezeichnet werden, als „wir unsere Zerissenheit erkennen: die Kluft zwischen dem, wie die Dinge sind, und dem, wie sie sein sollen, wird nie ganz verschwinden“[16] Ein Narrativ für erwachsen gewordene Weltbürger blendet die realen Gefährdungen der Zukunft nicht aus, sondern stellt sich diesen Herausforderungen, indem er anstatt Alarmismus oder Resignation Handlungsmodelle fördert und von Projekten erzählt, durch die ein menschwürdiges Leben für alle auf der ganzen Welt möglich wird und auch für zukünftige Generationen möglich bleibt.
Literatur[Bearbeiten]
- Heiner Geißler: Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen, Ullstein, Berlin 2012
- Themenheft „Wohlstand ohne Wachstum? Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 27-28/2012
- Susan Neiman: Moralische Klarheit für erwachsene Idealisten, Klartext Verlag, Essen 2011
- Josef Senft: Adultum - Zeitalter erwachsen werdender Weltbürger, die nach der Moderne an den Grenzen des Wachstums und angesichts ökonomisch-ökologischer Krisen Verantwortung für heutige und zukünftige Generationen übernehmen müssen, Grin, München 2012
- Werner Rätz, Tanja von Egan-Krieger u.a. (Hrsg.): Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben, VSA, Hamburg 2011
Weblinks[Bearbeiten]
- www.bundestag.de/bundestag/gremien/enquete/wachstum/
- http://www.monde-diplomatique.de/pm/2006/05/12.mondeText.artikel,a0070.idx,16
- http://www.sueddeutsche.de/wissen/bericht-an-den-club-of-rome-wir-werden-einen-kollaps-erleben-1.1351454
Quellen[Bearbeiten]
- ↑ Josef Senft: Adultum – Zeitalter erwachsen werdender Weltbürger, Grin Verlag, München 2012.
- ↑ Dennis Meadows u.a.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1972.
- ↑ Schlussbericht der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode, Drucksache 17/13300, www.bundestag.de/bundestag/gremien/enquete/wachstum/
- ↑ Meinhard Miegel: Welches Wachstum und welchen Wohlstand wollen wir? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 27-28, 2012, S. 6.
- ↑ Werner Rätz, Tanja von Egan-Krieger u.a. (Hrsg.): Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben, VSA, Hamburg 2011.
- ↑ Vgl. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Band II, Meiner 1919
- ↑ Vgl. Ulrich Beck: Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne. In: Ders., Anthony Giddens, Scott Lash (Hrsg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1996, S. 19-112.
- ↑ Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 9.Aufl., Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2012, S.490.
- ↑ Bodo von Borries: Zurück zu den Quellen? Plädoyer für die Narrationsprüfung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 42-43/2013, S. 12-18, 16.
- ↑ Vgl. Johannes Piepenbrink: Editorial des Heft-Themas „Geschichte als Instrument“, ebd., S. 1.
- ↑ Harald Welzer: Über Wissen und Wünschen – Oder warum wir keine Informationen, sondern Geschichten brauchen. In: agora42, Ökonomie. Philosophie. Leben. 3/2012, S. 28-34, 34.
- ↑ Vgl. Hans-Georg Golz: Editorial. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 1/2005, S. 1-3, 1.
- ↑ Jørgen Randers: 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre, Oekom, München 2012
- ↑ Vgl. Ders., ebd., S. 64 ff.
- ↑ Vgl. „Es gibt einen Ausweg“. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. Mai 2012
- ↑ Susan Neiman: Moralische Klarheit für erwachsene Idealisten, Kartext Verlag, Essen 2011, S. 18.
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