Verselbstständigte Bürokratien

Aus MARJORIE-WIKI
Wechseln zu: Navigation, Suche

Als verselbstständigte Bürokratien kann man solche staatliche Institutionen begrifflich zusammenfassen, die im verwaltungsrechtlichen und verwaltungswissenschaftlichen Sprachgebrauch als verselbstständigte Verwaltungseinheiten bzw. als Trabanten des Verwaltungssystems bezeichnet werden. Wegen der mit ihrer Verselbständigung verbundenen Probleme der Erosion der „Einheit der Verwaltung“ und der demokratischen Kontrollierbarkeit waren und sind sie auch stets Gegenstand nicht nur des verwaltungswissenschaftlichen, sondern auch des verfassungsrechtlichen Interesses. Besonders intensiv wurden diese Verwaltungstrabanten aber immer unter dem Gesichtspunkten des Haushaltsrechts und der Finanzwissenschaft in den Blick genommen: die entstandenen und entstehenden Nebenbürokratien wurden haushaltsrechtlich als Nebenhaushalte und finanzwissenschaftlich als sog. Parafisci kritisch unter die Lupe genommen, da sie häufig über ein eigenes Budget verfügen und auf diese Weise die Haushaltsgrundsätze der Einheit und Vollständigkeit des Haushalts durchbrechen.

Diese überaus zahlreichen Trabanten des Verwaltungssystems unter dem Begriff „verselbstständigte Bürokratien“ als eigene Kategorie zusammenzufassen, rechtfertigt sich insbesondere aus der breit gefächerten Diskussion zum Bürokratieabbau. Die bisherigen bürokratiekritischen Ansätze beschränken sich vor allem auf die Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltung, vernachlässigen aber den wichtigen verborgenen öffentlichen Sektor, in dem zahlreiche verselbständige Bürokratien beheimatet sind, die nicht nur öffentliche Aufgaben wahrnehmen, sondern zudem von ihren Mitgliedern finanziert werden, die sich diesen bürokratischen und finanziellen Lasten wegen der bestehenden Zwangsmitgliedschaft nicht entziehen können. Beispiele sind etwa die in Deutschland weit verbreiteten Kammern, aber auch Absatzförderungs- und Stabilisierungsfonds im Bereich der Wirtschaft sowie die Landesmedienanstalten und andere „Agencies“.

Pluralisierung und Binnendifferenzierung als Megatrend der Verwaltungsentwicklung[Bearbeiten]

Alle Kenner der öffentlichen Verwaltung sind sich in dem Befund einig, dass seit langem ein Prozess der Pluralisierung und Binnendifferenzierung der Verwaltung zu beobachten ist, und zwar vor allem in Gestalt der Privatisierung und organisatorischen Verselbständigung von Verwaltungsaufgaben. In der Rechts- und verwaltungswissenschaftlichen Diskussion wird dieser Ausdifferenzierungsprozess vor allem unter dem Stichwort „Einheit versus Pluralität“ der Verwaltung abgehandelt, und zwar in zweierlei Richtungen: während einige Autoren zunehmend das mit der Ausfransung der öffentlichen Verwaltung einhergehende Kontrollproblem und das der demokratischen Legitimation betonen, stellen andere eher auf die funktionelle Unentbehrlichkeit einer dezentralen Verwaltungsorganisation ab und machen geltend, daß der Einheitsverlust der öffentlichen Verwaltung sich letztlich als Leistungsgewinn erweise.

Wichtig für den hier zu skizzierenden Befund ist, dass es sich bei der Ausfransung des Verwaltungssystems keineswegs nur um ein deutsches Phänomen handelt und dass dieser Ausdifferenzierungsprozess weiter in vollem Gange ist:

  • Ein besonders dramatischer Ausfransungsprozess ist in Großbritannien zu beobachten, ein Befund, der in der einschlägigen Literatur als „organisatorische Revolution“ bezeichnet worden ist. Die britische öffentliche Verwaltung ruht – so die übereinstimmende Situationsbeschreibung – inzwischen auf drei Säulen, den „government-departments“, den „executive agencies“ und den sog. „non-departmental public bodies“. Während die Abspaltung von immer neuen „agencies“ aus der unmittelbaren Ministerialverwaltung schon ein vertrauter Prozess ist, sind das Neue die sog. NDPBs, die „Non-Departmental Public Bodies“, von denen im März 2006 die folgenden 838 Gebilde existierten: „This figue was made up by 199 Executive NDPBs, 448 Advisory NDPBs, 40 Tribunal NDPBs, 149 Independent Monitoring Boards, 21 Public Corporations, The Bank of England, 2 Public Broadcasting Authorities and 23 National Health Service Bodies“. Soweit zu dem britischen Beispiel.
  • Was die Aktualität des Ausfransungsprozesses angeht, so ist sie nicht nur ungebrochen, sondern zeigt sich in dem offenbar unaufhaltsamen Wachstum von “Agencies” aller Art, insbesondere von sog. „Regulatory Agencies“, die als typische Organisationsform des Regulierungsstaates gelten und inzwischen auch in Deutschland als Agenturen bezeichnet werden, wie nicht nur die Umbenennung der Bundesanstalt für Arbeit, sondern auch Gebilde wie die Bundesnetzagentur oder die „Deutsche Arzneimittelagentur“ (DAMA) zeigen. Manche Autoren sprechen daher schon von der ansteckenden Krankheit des „Agency Fever“ bzw. – etwas weniger dramatisch – vom „Regieren mit Agenturen“.

Finanzierung unselbständiger Bürokratien durch Sonderabgaben[Bearbeiten]

Die Diskussion über die Wünschbarkeit und Zulässigkeit von Nebenhaushalten lenkte die Aufmerksamkeit auf die generellere Frage der verschiedenen Finanzierungsmodi für die unterschiedlichen Typen der Verwaltungsorganisation; in einem ersten systematisierenden Zugriff kann man die folgenden Finanzierungsarten und Organisationstypen einander gegenüberstellen.

Finanzierungsmodi und Organisationstypen

Steuern Staat (Haushalte des Bundes, der Länder und der Gemeinden)
Gebühren/Beiträge Einrichtungen der Daseinsvorsorge betreibenden Leistungsverwaltung
Verbandslasten Selbstverwaltungskörperschaften
Sonderabgaben Fonds, Ausgleichskassen
Lenkungsabgaben z. B. Schwerbehindertenabgabe (Hauptfürsorgestellen)
Förderabgaben Fonds, Förderungsanstalten
Ausgleichsabgaben Fonds (z. B. Ausgleichsabgabe nach §12 des Milch- und Fettgesetzes

In der weiteren Diskussion hat sich als Oberbegriff für die Vielzahl der Abgaben, die keine Steuern, Gebühren oder Beiträge sind, der Begriff der Sonderabgaben herausgebildet, der inzwischen fest etabliert ist.

Dieser Finanzierungsmodus der Sonderabgaben hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt beschäftigt, so daß eine reichhaltige Literatur zu ihnen vorliegt, in der die prinzipielle Rechtfertigungsbedürftigkeit dieses im System der grundgesetzlichen Finanzverfassung „irregulären“ Finanzierungsmodus klar herausgearbeitet worden ist und die Grenzen seiner Verwendung eindeutig gezogen worden sind. Danach müssen die folgenden drei Kriterien kumulativ erfüllt sein:

  • Zunächst muss es sich bei den Zahlungspflichtigen um eine abgrenzbare besondere gesellschaftliche Gruppe handeln, die durch eine gemeinsame Interessenlage oder durch besondere gemeinsame Gegebenheiten von der Allgemeinheit und anderen Gruppen abgrenzbar ist.
  • Außerdem muss es zwischen dem Zweck der Abgabe und der Gruppe eine bestimmte Verbindung geben. Die mit der Abgabe belastete Gruppe muss dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck evident näherstehen als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler; andernfalls wäre die Sonderbelastung der durch die Abgabe in Anspruch genommenen Gruppe schon mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nicht zu vereinbaren.
  • Und die Abgabe muss gruppennützig sein, d.h. das Abgabenaufkommen muss überwiegend im Interesse der belasteten Gruppe verwendet werden.

Diese Generallinie ist auch in der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Februar 2009 zum Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft eindrucksvoll bestätigt worden (Urteil des Zweiten Senats, 2 BvL 54/06). Diese Entscheidung hat die skizzierten Kriterien nicht nur quasi formelhaft wiederholt, sondern unter dem Stichwort des Gruppennutzens die Frage aufgeworfen, ob die Werbetätigkeit der Centralen Marketinggesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft mbH, der CMA, einer Tochter des Absatzförderungsfonds, überhaupt noch im Interesse der belasteten Gruppe erforderlich ist; das Gericht hat diese Frage im Ergebnis verneint.

Solche Sonderabgaben spielen beim näheren Hinsehen überall dort eine besonders prominente Rolle, wo es um Maßnahmen der Wirtschaftsförderung und Wirtschaftslenkung geht und in denen die belastete Gruppe aus Unternehmern eines bestimmten Wirtschaftszweiges besteht; insoweit könnte man auch von einem Typus unternehmensfinanzierter Nebenbürokratien sprechen.


Weiterer Forschungsbedarf[Bearbeiten]

Angesichts der ständig wachsenden Zahl von Trabanten des Verwaltungssystems erscheint es unter dem Gesichtspunkt einer wirksamen Bürokratiekritik unerlässlich, auch den Typus der verselbstständigten Bürokratien auf den Prüfstand zu stellen.

Dazu erscheint es zunächst einmal erforderlich, eine umfassende und dauernd fortzuschreibende Bestandsaufnahme dieses Bürokratietyps vorzunehmen, da in den letzten Jahren eine Vielzahl neuartiger Gebilde entstanden ist, vom Öko-Audit bis zu dem aus dem Boden schießenden Zertifizierungsstellen. Eine solche Dokumentation kann nur ein erster Schritt in dem Bemühen sein, die „neue Unübersichtlichkeit“ im Bereich verselbstständigter Bürokratien transparenter zu machen, um so der interessierten Öffentlichkeit ein Urteil darüber zu erlauben, was in diesem Bereich des verborgenen öffentlichen Sektors vor sich geht.


Literatur[Bearbeiten]

Bach, Tobias/Jan, Werner, Animals in the Administrative Zoo: Organizational Change and Agency Autonomy in Germany, in: International Review of Administrative Sciences, 2010, S. 443-468.

Döhler, Marian, Vom Amt zur Agentur? In: Werner Jann/Marian Döhler (Hrsg.), Agencies in Westeuropa, Wiesbaden 2007, S. 12 ff.

Hood, Christopher, The Hidden Public Sector. The “Quangocratization” of the World?, in Franz Xaver Kaufmann et al. (Hrsg.), Guidance, Control, and Evaluation in the Public Sector, Berlin und New York 1986, S. 183-207.

Pollitt, Christopher et al. (Hrsg.), Agencies. How Governments Do Things Through Semiautonomous Organizations, New York, 2004.

Schuppert, Gunnar Folke, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbstständigte Verwaltungseinheiten, Göttingen 1981.

Smekal, Christian, Die Finanzwirtschaft intermediärer Gruppen, Wien, 1969.

Weblinks[Bearbeiten]

http://www.werner-bonhoff-stiftung.de (Projekt Bureaucratic Transparency)

http://www.normenkontrollrat.bund.de Normenkontrollrat

Wikilinks - Wikis & Websites mit Artikeln zum Thema[Bearbeiten]

(Trage deinen Link zum Artikel ein, wenn du eine Seite zum Thema oder diesen Artikel in dein Wiki exportiert hast)

Social Networks[Bearbeiten]

Netzwerke[Bearbeiten]

<fb:like></fb:like>

Blogs[Bearbeiten]

Twitter[Bearbeiten]

Info Sign.svg Dieser Wikipedia-Artikel wurde, gemäß GFDL, CC-by-sa mit der kompletten History importiert.