Systemische Prüfungstheorie

Aus MARJORIE-WIKI
Wechseln zu: Navigation, Suche

Die Systemische Prüfungstheorie liefert eine umfassende theoretische Grundlage für die Prüfung von Organisationen, wie sie von Internen Revisoren, Wirtschaftsprüfern oder staatlichen Kontrolleuren durchgeführt wird. Sie basiert auf der neueren soziologischen Systemtheorie, die nicht nur eine konsistente theoretische Grundlage zur Analyse von Organisationen (Systemische Organisationstheorie) liefert, sondern – da sie eine Theorie der Kommunikationssysteme ist – auch eine Grundlage für die Theorie der Prüfung.[1]

Die Systemische Prüfungstheorie sieht Prüfungen als soziale Systeme, also Einheiten, welche aus Kommunikation bestehen [2] . Um die Prüfung zu konstruieren, muss sie der Theorie gemäß von ihren Umwelten abgegrenzt werden, indem unterschieden wird, was dazugehört (Innen) und was nicht dazu gehört (Außen). Um eine Unterscheidung zu treffen, bedarf es eines oder vieler Beobachter. Im Fall von Prüfungen sind relevante Beobachter - neben den Initiatoren der Prüfung, die den Prüfungsauftrag geben – vor allem die unmittelbaren Teilnehmer der Prüfung, also Prüfer und Geprüfte, welche verhandeln, was zu einer Prüfung gehört. Die so von der Prüfung selbstbeobachtete Prüfung/Umwelt-Unterscheidungen wird in jeder Kommunikation der Prüfung mitkommuniziert und so die Grenze zwischen Prüfung und Umwelt in die Prüfung wieder eingeführt. Dementsprechend kommt eine zentrale Aktivität der Prüfung als soziales - und damit autopoietisches - System zum Tragen, nämlich die Beobachtung ihrer Grenze gegenüber ihrer Umwelt und deren Wiedereinführung als systemeigene, interne Operation in die Prüfung. Dabei wird in den Kommunikationsprozessen einer Prüfung auch die Erwartungen der Umwelten an die Prüfung formuliert, d. h. insbesondere die Anforderungen an die Prüfung in Form von Aussagen über die Prüfung kommuniziert. In Folge dieser Konstruktion kommt es zu der für spätere Überlegungen notwendigen Komplexität und Widersprüchlichkeit des Systems „Prüfung“. Wird nämlich die Beschreibung der Kommunikation in die Kommunikation wieder eingeführt und zwar so, dass jede Bedingung der Möglichkeit der Aussage zugleich auch die Bedingung ihrer Unmöglichkeit ist, ergeben sich Paradoxien.

Eine in dieser Form fundierte Prüfungstheorie ermöglicht es, unterschiedliche Typen von Prüfungen gegeneinander abzugrenzen und zu vergleichen. Wie bei jeder Kommunikation kann im Prüfungsprozess die Verhandlung dreier „Sinndimensionen“ beobachtet werden:[3] Es geht 1. um sachliche Inhalte (Sachdimension), 2. um die Beziehungen von Teilnehmern an der Kommunikation (Sozialdimension) und 3. um Fragen der zeitlichen Ordnung von Prozessen (Zeitdimension). Diese Dimensionen können Prüfungen kategorisieren und analysieren helfen, woraus sich dann Handlungsanweisungen für die Prüfungspraxis ergeben.[4]

IT-Prüfer diskutieren z. B. mit den IT-Experten der geprüften Organisation über „harte Fakten“, wie die Ausgestaltung des Quellcodes einer Software. Es findet ein Gespräch unter Experten darüber statt, ob ein technisches Problem mathematisch korrekt gelöst ist (Sachdimension).

Hat der Geprüfte schlechte Erfahrung in vorangehenden Prüfungen gemacht, wird er die Beziehung zu Prüfern grundsätzlich kritisch sehen und dem Prüfer zurückhaltend begegnen. Daher tut ein Prüfungsteam gut daran, die Vorerfahrungen und Erwartungen der Geprüften zu kennen, um das gegenseitige Rollenverständnis zu klären (Sozialdimension).

Eine ausführliche, wochenlange Prüfung mit vielen Befragungen erlaubt in der Regel weitergehende Erkenntnisse als eine nur kurz dauernde Prüfung mit wenigen Befragungen (Zeitdimension).

Ohne eine Theorie fällt es schwer, die Sinnhaftigkeit von Prüfverfahren zu beurteilen. Das hat nicht nur die in den vorangehenden Beispielen dargelegten Auswirkungen auf die Prüfmethodik, sondern auch auf das Rollenverständnis des Prüfers: Während traditionelle Prüfungsansätze einen unabhängigen, objektiven Prüfer postulieren, der die Prüfung steuert, geht die Systemische Prüfungstheorie von einem weitaus breiteren theoretischen Fundament aus, das subjektive Sichtweisen zulässt und eine uneingeschränkte Kontrolle des Prüfungsprozesses in Frage stellt.[5] Die in der Systemischen Prüfungstheorie angelegten Zweifel an der traditionellen Rolle des Prüfers dienen jedoch nicht dazu, eine Gegenposition zu den existierenden Prüfungsstandards aufzubauen und berechtigte gesellschaftliche Forderungen an Prüfungen infrage zu stellen. Auch besteht nicht etwa eine pessimistische Haltung gegenüber dem Sinn von Prüfungen oder den Fähigkeiten von Prüfern. Erst eine Theorie, die z. B. „Unabhängigkeit“ und „Objektivität“ nicht voraussetzt, erlaubt es, Mittel und Wege aufzuzeigen, wie ein Prüferteam mehr Unabhängigkeit und Objektivität erreichen kann. Die Systemische Prüfungstheorie kann so die Prüfer darin unterstützen, aktiv die für Prüfungen notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, statt sie einfach als gegeben vorauszusetzen. Dazu werden Blickwinkel aufgezeigt, die es dem Prüfungsteam und seinem Heimatsystem (Revisionsabteilung, Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Finanzamt) erlauben, die Grenzen und Möglichkeiten ihres Handelns zu erkunden und zu versuchen, die Position des Teams im Prüfungsverlauf zu verbessern.[6]

Eine Konzeption der Prüfungstheorie auf Basis der neueren soziologischen Systemtheorie erlaubt es fernerhin, die Erkenntnisse aus den bisherigen Anwendungsbereichen, wie die der Systemischen Organisationsberatung, der Systemischen Therapie, des Systemischen Coachings und der Systemischen Pädagogik, auf Systemische Prüfungsansätze zu übertragen. Dies gilt für deren Erkenntnisse sowohl zur Fragetechnik[7] als auch zur Beschreibung der Lebensfähigkeit von sozialen Systemen.[8] Der systemische Ansatz bevorzugt beim Umgang mit komplexen sozialen Systemen diejenigen Beschreibungsmodelle, die externe und interne Systembeziehungen als multikausal, zirkulär und rekursiv erkennbar machen.[9]

Literatur[Bearbeiten]

  • Petra Haferkorn: Mehr als nur ein paar Fragen. In: Zeitschrift Interne Revision 5/2006, S. 186–196.
  • Petra Haferkorn: Systemische Prüfungen. Systemtheoretische Prüfungstheorie und systemische Prüfungsansätze zur Einschätzung der Lebensfähigkeit von Organisationen. Heidelberg, Auer 2010. ISBN 978-3-89670-932-5
  • Petra Haferkorn: Zugleich ´drinnen und ´draußen. In: Zeitschrift Interne Revision 6/2013, S. 292–304.
  • Markus Hänsel: Der Ordnung halber! Grundlagen der systemischen Beratung. In: Organisation außer Ordnung. Hrsg. Martin Vogel. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2013. S. 21-38.
  • Roswita Königswieser, Martin Hillebrand: Einführung in die systemische Organisationsberatung. Heidelberg, Auer, 2. Aufl. 2005.
  • Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt, Suhrkamp 1984. ISBN 3-518-28266-2
  • Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. Wiesbaden, VS Verlag, 2. Aufl. 2006.
  • Humberto Maturana, Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. München, Goldmann 12. Aufl. 1990. ISBN 3-59617855-X
  • Silvia Puhani: Erfolgreiche Prüfungsprozesse in der Internen Revision. Konzepte, Kommunikation, Konfliktmanagement. Berlin, Schmidt 2015. ISBN 978-3-503-15717-4
  • Fritz B. Simon: Einführung in die (System-)Theorie der Beratung. Heidelberg, Auer 2014. ISBN 978-3-84970031-7

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Haferkorn 2010
  2. Luhmann 1984
  3. Luhmann 1984, S. 112 ff.
  4. Simon 2014. S. 7 ff. und S. 78–84 für Beratung sowie Systemische Organisationsberatung
  5. Puhani 2014
  6. Haferkorn 2013
  7. Haferkorn 2006
  8. Maturana, Varela 1984 und Luhmann 1984
  9. vgl. Hänsel 2013, Haferkorn 2010, Königswieser, Hillebrand 2004 und Luhmann 2000
  Dieser Wikipedia-Artikel wurde, gemäß GFDL, CC-by-sa mit der kompletten History importiert.