Identitätsbewusstsein
Identitätsbewusstsein als Bewusstsein seiner eigenen Identität setzt ein semantisches Gedächtnis und Erinnerungen voraus.
Das persönliche Identitätsbewusstsein wird von der Psychologie untersucht, das gesellschaftlicher Gruppen von der Soziologie. Ein Identitätsbewusstsein größerer Verbände wie das von Nationen (Nationalbewusstsein) oder noch umfassenderer Verbände wie Reichen oder Imperien oder etwa das der hellenistischen Welt oder neuerdings der Europäischen Union setzt wesentliche Gemeinsamkeiten voraus wie etwa gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Kultur, eine gemeinsame Dynastie (vgl. Vielvölkerstaat) oder eine gemeinsame Geschichte.
Umgekehrt gilt, dass eine Geschichtsschreibung nur für Verbände möglich ist, in denen ein gemeinsames Identitätsbewusstsein vorherrscht. Deshalb gibt es bisher keine ernstzunehmende einheitliche Geschichte Europas, wohl aber eine Geschichte der Europäischen Einigung. Das wird auch im Artikel der Wikipedia zur de:Geschichte der Europäischen Union deutlich, in dem es heißt: "Die Geschichte der Europäischen Union ist bislang vor allem eine Geschichte der verschiedenen multilateralen Verträge."
Den Versuch, ein genuines europäisches Geschichtsbewusstsein zu vermitteln, unternehmen einerseits die Geschichtswettbewerbe des Verbandes EUSTORY und andererseits Euroclio, ein Zusammenschluss von Geschichtslehrervereinigungen aus einer Reihe von europäischen Ländern.
Inhaltsverzeichnis
Entstehung von Identitätsbewusstsein politischer Einheiten[Bearbeiten]
Identitätsbewusstsein im vorgeschichtlichen Raum kann durch gemeinsame Mythen entstehen. Insofern haben etwa Homer mit Ilias und Odyssee und Herodot mit seiner Vereinheitlichung der griechischen Mythologie wesentlich zum griechischen Identitätsbewusstsein beigetragen.
In den chinesischen Vorstellungen von den Urkaisern wird die Entstehung der menschlichen Zivilisation mit der Phase der Entstehung der eigenem politischen Einheit, des Reiches der Mitte, identifiziert. Im japanischen Anfangsmythos ist sogar die Entstehung der irdischen Welt identisch mit der Entstehung Japans.
Ein eigenes Problem stellt dabei der Wechsel der Identität einer Einheit dar. Ein intensiv diskutierter Fall ist der Wechsel vom ostfränkischen Reich zum Heiligen Römischen Reich.
Einer der wohl komplexeste Fälle iwar der Übergang der Südslawen von Bürgern des Römischen Reiches zu Bewohnern des byzantinischen, dann des osmanischen, dann Österreich-Ungarns (bis dahin durchweg von Vielvölkerstaaten) zu einem panslawistischen Großnationalismus, der nach dem Ersten Weltkrieg in die Bildung des Vielvölkerstaates Jugoslawien mündete, der seinerseits auseinanderbrach und erst über den Gründungsmythos des Partisanenkampfes unter Tito nach dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Beständigkeit erlangte.
Dabei spielten die Elemente Dynastie, in diesem Fall durch die Person Titos repräsentiert, gemeinsame Geschichte und andererseits eigenständige politische Rolle als einziges "Blockfreier Staat" im kommunistischen Ostblock alle eine wichtige Rolle. Als sie mit Titos Tod und der Auflösung des Ostblocks verloren gehen, werden neue identitätsstiftende Mittel gesucht. Im Fall Sloweniens ist das relativ einfach, da die Sprache zu Hilfe kommt. Zwischen Serbien und Kroatien kann die Religion den Trennstrich ziehen, so dass aus überzeugten Jugoslawen durch Zwangstaufe Kroaten oder Serben werden, je nachdem, ob sie orthodox oder katholisch getauft worden sind. Auch in Bosnien und Herzegowina können so Familien auseinander gerissen und die tolerante muslimisch-christliche Mischkultur zerstört werden.
Die Aufgabe des nation building in Kosovo ist daher ähnlich schwer wie im Irak, wo die Diktatur Saddam Husseins ein Identitätsbewusstsein schaffte, das gegenwärtig durch religiöse und ethnische Trennungslinien gestört wird, so sehr das Bewusstsein, in den Besatzern einen gemeinsamen Gegner zu haben, einem großen Teil der Bevölkerung gemeinsam sein mag.
Jede menschliche Gruppe hat kollektiv ein idenditätsbestimmendes gemeinsames Bewusstsein, das die Regeln und Normen der jeweiligen Gesellschaft enthält. Karl Marx postulierte dafür den Begriff gesellschaftliches Bewusstsein, das durch das individuelle gesellschaftliche Sein bestimmt werde und mit Bezug auf die soziale Gruppen- oder Klassenzugehörigkeit der Menschen eine wesentliche Voraussetzung für gemeinsames Arbeiten und politisches Handeln ist.[1]
Gefahren eines falschen Identitätsbewusstseins[Bearbeiten]
Religion, Mythos und Kunst, Glorifizierung, Geschichtspolitik, soziale Konflikte, etc. können ein ideologisch begründetes falsches Bewusstsein hervorrufen, das unangenehme Wahrheiten ausblendet (Damnatio memoriae) oder Tatsachen verfälscht. Salomon Korn formuliert diesen Gedanken auf die deutsche Identität bezogen wie folgt: Es gelte "sich eben nicht in eine nationale Identität zu flüchten, die zwangsläufig die Erinnerung an den nationalsozialistischen Massenmord auf ihre Bedürfnisse hin verbiegen, relativieren und schließlich verfälschen muss".[2] Bewusste Erinnerungskultur kann gegen solche Gefahren gegensteuern.
Das individuelle Erinnern[Bearbeiten]
Neben dieser politischen Form von Identitätsbewusstsein gibt es die persönliche Identität, die über Erinnerung jeweils neu angelegt wird. Wichtig für die Erforschung dieses biografischen Ansatzes waren die Beiträge von de:Harald Welzer, der über die Wirksamkeit der Tradition oder deren Verleugnung in Familien forschte. Er fasste damit eine nur selten ausgesprochene Form der Vergangenheitsbewältigung in Worte: das absichtliche Verschweigen der eigenen Vergangenheit und seine negativen Folgen für den kollektiven Zusammenhalt.[3] Das gleiche Thema wird belletristisch dargestellt von Leslie Kaplan in dem in Frankreich spielenden Buch Fever.
Literatur[Bearbeiten]
- Hansch, Dietmar : Sprung ins Wir. Die Neuerfindung von Gesellschaft aus systemischer Sicht. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2010
- Harald Welzer, Christian Gudehus, Ariane Eichenberg (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung: ein interdisziplinäres Handbuch, Metzler, 2010, ISBN 978-3-476-02259-2
Weblinks[Bearbeiten]
- "das Ich gibt es nur in seinem Bezug zur Vergangenheit" (Interview mir Harald Welzer in Frankfurter Rundschau vom 27.7.2010)
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Karl Marx: de:Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort. Zit. n. MEW 13, S. 9, mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm
- ↑ Salomon Korn: Geteilte Erinnerung. Beiträge zur deutsch-jüdischen Gegenwart, Berlin 1998.
- ↑ Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. Beck, München 2002, ISBN 3-406-49336-X; ebd. 2005, ISBN 3-406-52858-9.