Gerhard Junge

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Gerhard Junge (* 11. Juni 1922 in Carlsruhe, Oberschlesien) ist ein deutscher Philologe. Als Romanist und Germanist war er zuletzt Oberstudiendirektor in Lennestadt.

Inhaltsverzeichnis

Leben[Bearbeiten]

Junges Mutter war Chefsekretärin bei Siemens & Halske in Kattowitz. Der Vater war Kgl. Preuß. Eisenbahnbeamter. Die Eisenbahndirektion Kattowitz musste nach Frankfurt (Oder) ausgesiedelt werden; denn entgegen der Volksabstimmung in Oberschlesien hatten die Siegermächte alle deutschen Institutionen zur Aussiedlung gezwungen. Als die Reichsbahndirektion Osten entstand, zogen 600 Beamtenfamilien in die moderne Eisenbahnersiedlung Paulinenhof von Martin Kießling.[1] 1923 kam Junges Bruder Herbert zur Welt. Gerhard Junge besuchte das Friedrichsgymnasium und schloss sich 1932 als „Wölfling“ der Bündischen Jugend an.

Wehrmacht und Gefangenschaft[Bearbeiten]

Bei Beginn des Polenfeldzugs meldete Junge sich zur Luftwaffe (Wehrmacht). Das hatte den Vorteil, dass diesen Kriegsfreiwilligen das Reifezeugnis ohne Prüfung ausgehändigt wurde. Junge wurde am 8. Januar 1940 zur Luftwaffe in Stettin eingezogen. Er hatte beabsichtigt zum fliegenden Personal zu kommen, wurde jedoch wegen eines Augenfehlers zur Flak gewiesen. Seine Flak-Abteilung wurde wegen des bevorstehenden Kampfes gegen die Maginot-Linie in die Heeresartillerie-Abteilung 817 umgewandelt.[2] Mit ihr zog Junge als Gefreiter nach Vesoul und Valdahon, obwohl er schon damals nicht mehr an einen deutschen Sieg glaubte. In Gesprächen mit Einheimischen wurde ihm bewusst, „dass die Amerikaner kommen werden“.

Der Deutsch-Sowjetische Krieg begann für seine Abteilung HAA 817 im Mittelabschnitt der Ostfront (Zweiter Weltkrieg). Sie wurde im Winter 1941 fast aufgerieben und verlor alle Geschütze. Sie wurde daraufhin hinter der Kriegsfront gegen Partisanen eingesetzt, ohne die dafür nötige Infanterieausrüstung zu haben. Im März 1942 wurde Junge mit zwei Kameraden zur Offizierausbildung an die Infanterie-Schule II in Döberitz abgeordnet. Zum Abschied beschied der Kommandeur Karl Wilhelm Specht die Absolventen:[3]

„Und damit Sie, meine Herren Leutnants, ein klares Bild der Lage mitnehmen: Laut Statistik des Heerespersonalamts hat ein Offizier in vorderster Linie heute eine Lebensdauer von siebzehn Tagen. Unserem Führer ein dreifaches Siegheil! Siegheil! Siegheil!“

General Specht

Als einer der zehn Jahrgangsbesten wurde Junge zur mot-Ausbildung (motorisierte Infanterie) abkommandiert: vier Wochen Berlin für vier Führerscheine. In der Schlacht von Rschew erkrankte er zu Weihnachten 1942 an Scharlach. Wegen einer folgenden Endokarditis wurde er von Smolensk nach Wien verlegt. So bald er er wieder gehen konnte, besuchte er die berühmten Aufführungen der Wiener Staatsoper und der großen Theater.

Er war noch nicht wiederhergestellt; aber man hielt ihn für einsatzfähig als Lehroffizer an der Infanterie-Schule I in Dresden. Nach mehreren Monaten kam Junge aufgrund eines Irrtums nicht wie gewünscht an die Front in Italien, sondern zu einer Abteilung der 50. Infanterie-Division. Diese wurde in Züllichau aufgestellt und sollte die (neu aufgestellte) 6. Armee ersetzen, deren Reste von der Krim nach Rumänien geflüchtet waren. In ihrem 5. Sturmbataillon führte Junge einen (motorisierten) Flak-Zug der Artillerie-Kompanie.[4] Als im August 1944 die Rote Armee angriff, zerbrachen die 6. Armee und die 8. Armee innerhalb von wenigen Stunden. Die Operation Jassy-Kischinew führte in den Rücken der deutsch-rumänischen Front und ließ sie in ganzer Länge zusammenbrechen. Junge sah voraus, dass es an der Donau keine Rettung geben würde. Alles strömte dorthin und verstopfte die einzige Straße. Über die kilometerbreite Donau führte keine Brücke, nur eine einzige Fähre – für tausende Soldaten samt Sturmgeschützen und Fahrzeugen. In einer nächtlichen Offizierbesprechung mit Junge gaben mehrere Generale die Sinnlosigkeit weiteren Kämpfens zu; jeder solle seine Waffen abgeben und „nach Hause gehen“. Für große Trupps war das ein aussichtloses Unterfangen. Junge machte sich mit drei Kameraden allein auf den wochenlangen Weg nach Westen – vogelfrei hinter der russischen Kriegsfront, nachts in Maisfeldern. Als einer der ganz wenigen erreichte er mit zwei der drei Kameraden Bukarest. Dort geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, zunächst im Auffanglager für die Deutsche Heeresmission (Bukarest) mit rumänischen Regierungsbeamten und ihren deutschen Kontrolleuren. Danach verbrachte er fast fünf Jahre in Gulags, zunächst zum Torfabbau in Ivanovo, dann zur Rodung von Moorwald in Uren. Der jahrelange Hunger begünstigte die Entstehung einer Phlegmone, die zur eiternden Darmfistel wurde. Mit einem Trick gelang es Junge, über das Entlassungslager (Lager I) in den Heimattransport nach Frankfurt in der gerade gegründeten Deutschen Demokratischen Republik zu kommen. Seine Angehörigen waren dort nicht mehr aufzufinden. Junge behauptete (nicht zu Unrecht), dass dieses Frankfurt ein Irrtum sei, und wurde nach Frankfurt am Main entlassen.

Marburg[Bearbeiten]

Seine Mutter und sein Bruder waren nach Frankfurt-Niederrad gezogen. Auf dem Weg dorthin kam Junge ins Auffanglager Bad Hersfeld. Von den für die Behandlung der Infektion möglichen LVA-Kliniken kam nur die in Marburg in Frage; denn die Stadt hatte eine Universität, an der er – zwischen fünf Operationen – studieren konnte. Er sorgte in Kassel für die postume Entnazifizierung seines Vaters, der im Dienst bei der Reichsbahndirektion Kassel tödlich verunglückt war. Die Entnazifizierung war die Bedingung der Witwenpension, ohne die die schwerkranke Mutter sich und die Söhne nicht hätte durchbringen können. Als sie einen Monat nach ihrer Bewilligung starb, hatte Junge von 103 DM Waisenrente zu leben. Trotzdem wurden die Marburger Jahre seine glücklichsten.

Nach einem Kolloquium bei Arthur Henkel konnte er sich an der Philipps-Universität Marburg für Germanistik und Romanistik immatrikulieren. Ein ehemaliger Oberschulrat gab ihm Nachhilfe in deutscher Grammatik; die Evangelische Kirche gewährte eine Starthilfe. Persönlichen Kontakt hatte er zu Konrad Lorenz, Christian Winkler und Rudolf Bultmann. Eigentlich war er an nichts anderem interessiert als Literatur. Eine Universitätslaufbahn war wegen der zehn durch Krieg und Gefangenschaft verlorenen Jahre nicht mehr möglich; es blieb nur die Berufsperspektive „Lehrer“. Wegen seiner Geringschätzung der Pädagogik als Wissenschaft hörte er Philosophie bei Julius Ebbinghaus, den er noch heute hoch verehrt. In Marburg lernte er seine Frau Hildegard Modes kennen, eine Fotografin aus Saaz, die im heimatlichen Egerland einen Namen hatte.

Bei Johannes Klein schrieb er seine Dissertation über die etwa 300 französischen Gedichte aus dem Spätwerk von Rainer Maria Rilke. Das Geld für die Schreibmaschine verdiente er in einer Drückerkolonne. Für die Entsendung als Deutschlehrer an ein französisches Gymnasium kamen nur geborene Hessen in Frage. Stattdessen kam Junge immerhin für einen Monat zur Alliance française im 1. Arrondissement (Paris). Als Fremdenführer für deutsche Lourdespilger konnte er noch einige Wochen in der alten Pariser Bohème verbringen. An der Universität von Brüssel war er ein halbes Jahr Gasthörer. Wegen der verständlichen Deutschfeindlichkeit der Wallonen verließ er Brüssel gern.

Bremen und Bremerhaven[Bearbeiten]

Seine Frau fand in Bremen einen Arbeitsplatz als Leiterin eines Fotoateliers für Wirtschaftswerbung. Nachdem Junge das erste Staatsexamen in Marburg abgelegt hatte, zog das Ehepaar mit der 1952 geborenen Tochter nach Ritterhude. Nach zwei Jahren als Studienreferendar in Bremen ging Junge für neun Monate als Sprachassistent nach Reims.[5] Seine erste Anstellung nach dem zweiten Staatsexamen übernahm er an der Wilhelm-Raabe-Schule (Bremerhaven). „Die Leute waren prächtig und die Raabe-Schule auch“; aber die Duldung schlechter Lehrer und die ungerechte Lastenverteilung setzten ihm zu. Trotzdem lehnte er 1958 das Angebot seines Doktorvaters ab, sich in Marburg zu habilitieren; für eine akademische Karriere hatte er zu viel Zeit verloren. Im selben Jahr kam die zweite Tochter zur Welt. Junge organisierte den Schüleraustausch mit Neuenburg NE und hospitierte 1965 am Lycée Michel-Montaigne in Bordeaux. Dort lernte er die guten und schlechten Seiten der rigorosen Elitepolitik an französischen Schulen und die Arbeit mit einem Sprachlabor gründlich kennen. Bremerhaven war zur ersten und bleibenden Heimat der Familie geworden.


Jakarta[Bearbeiten]

Die überzogenen Forderungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Verschrobenheiten der Linguistik und der wachsende Einfluss der Frankfurter Schule in den Kultusministerien verleideten ihm das Lehrerleben in Deutschland. 1967 ging er im Auftrag des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) für drei Jahre nach Indonesien. An der Universität Indonesia arbeitete er als Hauptlektor für deutsche Sprache. Er gründete eine zweiklassige deutsche Schule und half so beim Aufbau der Deutschen Internationalen Schule Jakarta.

Lennestadt[Bearbeiten]

Nach seiner Rückkehr aus dem Ausland ging Junge 1971 als Oberstudiendirektor an das Gymnasium der Stadt Lennestadt. 1980 ließ er sich wegen gesundheitlicher, von der Kriegsgefangenschaft herrührender Probleme pensionieren. Er schrieb für die Lennestadter Kulturgemeinde 298 Theaterkritiken und wurde wie seine Frau ihr Ehrenmitglied.[6] Seine Frau starb nach 58-jähriger Ehe im September 2012 kurz nach ihrem 92. Geburtstag.[7] Mit seinen Töchtern besuchte Junge im Juli 2013 noch einmal das heimatliche Frankfurt und „seine“ Oder.

Lebenserinnerungen[Bearbeiten]

Nachdem er sich über Jahre mit James Joyce und seinem Ulysses befasst hatte, begann er im Alter von 84 Jahren seine Autobiografie Nebelschattenschein zu schreiben:

„Nebel trübt jeden Blick in die eigene Erinnerung. Schatten sind die vielen Toten. Schein ist, was wir zu sehen glauben.“

Gerhard Junge

2010 erschienen, ist Junges Buch auch ein geistesgeschichtliches Kaleidoskop Europas. Die Alltagsgeschichte der Zwischenkriegszeit vor dem Hintergrund des verhängnisvollen Versailler Vertrages, die Brüchigkeit von Idealismus und Zeitgeist, Jugend, Religion und Philosophie, das Bildungssystem und die Lehrerausbildung in Frankreich und Deutschland, die einzigartige Urbanität von Paris, die europäische Literaturgeschichte und die Religionen Indonesiens sind Bücher im Buch. „Reform und Revolution sind feindliche Brüder.“

Dem Buch vorangestellt sind Verse von T. S. Eliot:

„This is the use of memory:
For liberation – not less of love but expanding
Of love beyond desire, and so liberation
From the future as well as the past.“

T. S. Eliot, Four Quartetts (Little Gidding)

Werke[Bearbeiten]

  • Motivuntersuchungen zu den französischen Gedichten Rainer Maria Rilkes. Marburg/Lahn 1956, DNB 480154260, OCLC 73879167 (386 S., Dissertation Universität Marburg).
  • Wilhelm Raabe, in: Festschrift zur 100-Jahrfeier der Wilhelm-Raabe-Schule 1878–1978. Bremerhaven 1973, S. 5–9.
  • Universitäten in Indonesien. Geschichte und Struktur, hg. von W. Gatz, Bremen Economic Research Society, Bremen 1973. GoogleBooks
    – Englische Übersetzung von Joan Leisewitz: The universities of Indonesia. History and structure. 1973.
  • Nebelschattenschein: Lebenserinnerungen 1922–2008. NW-Verlag, Bremerhaven 2010, ISBN 978-3-86509-966-2 (329 S.).

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Paulinenhof (Frankfurt/Oder)
  2. Die HAA 817 war direkt dem Oberkommando des Heeres unterstellt. Dessen Oberbefehlshaber waren Walther von Brauchitsch und ab dem 19. Dezember 1941 Adolf Hitler.
  3. Lebenserinnerungen, S. 113
  4. Das Bataillon hat keine militärgeschichtlichen Spuren hinterlassen.
  5. In der heruntergekommenen Kaserne hatte Dwight D. Eisenhower am 7. Mai 1945 die Kapitulation von Alfred Jodl entgegengenommen
  6. Stadt Lennestadt
  7. Traueranzeige, Nordsee-Zeitung
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