Gefallenes Mädchen

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Gefallenes Mädchen – oft auch frz. fille perdue – war ein Begriff für Mädchen oder Frauen, die den Moralauffassungen der bürgerlichen Gesellschaft vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nicht genügten.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte[Bearbeiten]

Die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war vorwiegend patriarchal geprägt, so verlor ein Mann nicht an Achtung, wenn er eine Geliebte hatte, wobei indes diese Geliebte gesellschaftlich geächtet wurde. Auch wurde eine unverheiratete Frau, die sich weigerte, verführt zu werden, oft als „prüde“ verspottet. Wenn sie jedoch den Verführungen (oder sogar einer Vergewaltigung) erlag, galt sie als ein gefallenes Mädchen, insbesondere dann, wenn außer dem Verlust der Jungfernschaft auch noch eine Schwangerschaft folgte. Da Schwangerschaftsabbrüche gesetzlich verboten waren, flüchteten sich viele Frauen und Mädchen dann zu mehr oder weniger professionellen Engelmachern. Bei diesen Abtreibungen kam es auf Grund der schlechten hygienischen Bedingungen oft zu Komplikationen, die zu Unfruchtbarkeit oder gar Tod führten. Doch fallen konnte nur jemand, der einen gewissen sozialen Rang hatte. Eine Fabrikarbeiterin oder eine Bauernmagd konnte kaum noch ein „gefallenes Mädchen“ werden. Sängerinnen, Künstlerinnen, Tänzerinnen, Kokotten und ähnliche, bei denen sexuelle Freizügigkeit vorausgesetzt wurde, waren eine berufliche Ausnahme und wurden nicht als „gefallen“ angesehen, doch war ihr sozialer Status aufgrund ebendieser Tätigkeiten allgemein sehr gering. Mätressen als offizielle Geliebte eines Fürsten, Adligen oder sonst bedeutenden Mannes konnten ebenfalls nicht fallen. Die Gefahr traf am meisten die Frauen und Mädchen der beginnenden sozialen Mittelschicht, wie Dienstmädchen oder Kleinbürgertöchter. Vielen weiblichen Angestellten wurde bei sichtlicher, eheloser Schwangerschaft gekündigt, was einen weiteren sozialen Abstieg bis hin zur Prostitution förderte. Ungewollte Schwangerschaften kamen bei professionellen Prostituierten äußerst selten vor, da die „Profis“ meist sehr genau über den weiblichen Zyklus und die entsprechende Verhütung und Vermeidung von Schwangerschaften Bescheid wussten. Im Gegensatz dazu war so etwas wie sexuelle Aufklärung damals für die „gehobenen Töchter“ undenkbar und auch nicht vorgesehen.

In Kunst und Literatur, besonders aber in den Groschenromanen, wurden solche Schicksale tausendfach zur Abschreckung verbreitet; selbst Johann Wolfgang von Goethe hat im Faust die Geschichte vom gefallenen Gretchen als Höhepunkt der Handlung genutzt. Zwischen den Weltkriegen war es der Erfolgsroman Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun, welcher die Geschichte eines gefallenen Mädchens mit sarkastischem Humor erzählt.

Sittlichkeitsvereine als frühe Frauenbewegung[Bearbeiten]

Im Kampf gegen die Prostitution entstanden in der Mitte des 19. Jahrhundertes europaweit die so genannten Sittlichkeitsvereine. Deren Mitglieder waren bürgerliche Frauen, die sich gegen die herrschende Doppelmoral und die Tolerierung dieser Zustände durch ihre Regierungen engagierten. Im Vereinigten Königreich war dies beispielsweise die Ladies’ National Organisation (LNA), die sich unter der Leitung von Josephine Butler entschieden gegen den Contagious Disease Act stellten, der Prostituierte einseitig kriminalisierte, ihre Kunden jedoch unbehelligt ließ. Wie viele dieser Vereine war auch die LNA in der Sozialarbeit tätig und unterstützte die „gefallenen Mädchen“ nicht nur tatkräftig, sondern setzte sich auch politisch für die wirtschaftliche und rechtliche Besserstellung von Frauen ein, damit diese ihre Existenz sichern konnten, ohne sich zu prostituieren.

20. Jahrhundert und Gegenwart[Bearbeiten]

Erste Schübe der Emanzipation der Frauen wurden in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus zunichte gemacht. Noch ein Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg löste das von Alice Schwarzer initiierte öffentliche Bekenntnis von 374 Frauen Wir haben abgetrieben!, mit dem der Stern vom 6. Juni 1971 aufmachte, einen Skandal aus, der auch dazu beitrug, dass in der öffentlichen Diskussion (weniger im Bewusstsein der Menschen) Begriffe wie gefallenes Mädchen allmählich verschwanden.

Eine detaillierte filmische Bearbeitung des Themas in den 1920er-Jahren findet sich in Tagebuch einer Verlorenen.


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