Faktitiv (Sprachphilosophie)

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In der Sprachphilosophie von John R. Searle ist ein Faktitiv (von lat. facere „machen“, „herstellen“, „anfertigen“) eine Entität von propositionaler Struktur zur Begründung einer Handlung. Faktitive sind Teil seines Modells der Struktur von Gründen aus seinem Werk Rationality in Action.[1]

Faktitive erweitern den von Aristoteles umrissenen Kreis rationaler Handlungsgründe von intentionalen Zuständen (wie Bedürfnissen und Überzeugungen) um Fakten in der Welt ebenso wie um Entitäten der sozialen Wirklichkeit, wie Pflichten und Wünsche. Faktitive sind laut Searle immer Grund für eine Handlung und werden durch eine „…, dass“-Phrase ausgedrückt.[2] Sie sind jedoch keine Wahrmacher, sondern können gerade dann auch Gründe sein, wenn der korrespondierende Sachverhalt nicht vorliegt (Kontrafaktisches Konditional). So wird „…, dass es regnet“ in „Ich dachte, dass es regnet“ zu einer faktitiven Entität, wenn eine Person damit begründet, warum sie einen Regenschirm dabei hat, auch wenn es de facto nicht regnet. Die Aussage besitzt einen „faktischen“ Teil „Ich habe gedacht, dass…“ , der hat Folgeteil nicht-faktischen Charakter.

Etymologie[Bearbeiten]

Mit der Einführung des Begriffs „Faktitiv“ (oder auch: „faktitive Entität“) nimmt Searle auf den älteren, sprachwissenschaftlichen Gebrauch des Ausdrucks bezug. Dieser beschreibt zum einen eine Sonderform des Kausativs von Verben und zum anderen einen gegebenen Kasus bzw. einen postulierten Tiefenkasus, also einen in verschiednen Sprachen an Substantiven oder Verben enthaltenen grammatischen Marker, der darauf hinweist, dass das Subjekt eine Handlung nicht nur veranlasst, sondern bewirkt bzw. ihr Resultat aktiv hervorbringt.

Beispiel:

  1. Der Künstler trägt das Bild.
  2. Der Künstler zeichnet das Bild.

Im ersten Fall wird mit dem Objekt "Bild" etwas getan, während es im zweiten Fall noch nicht existiert und aus der Handlung hervorgeht.

Verwendung nach Searle[Bearbeiten]

Einbettung in Searles Rationalitätsmodell[Bearbeiten]

Nach Searles Verständnis von Rationalität ergeben sich grundlegende Kriterien für rationale Entscheidungen. Die entscheidende Person muss zumindest 1) ein Bewusstsein davon haben, dass sie desires und beliefs besitzt, 2) sich bewusst zwischen Gründen entscheiden können und 3) (zumindest rudimentär) ein Sprachvermögen besitzen, das eine Grundvorstellung logischer und metalinguistischer Begriffe bereitstellt, um desire-unabhängige Handlungsgründe zu erlauben.[3] Nach Searles Modell ist ein rationaler Grund ein solcher, der möglichst viele desires und beliefs der entscheidenden Person erfüllt und möglichst wenige davon enttäuscht. Ein rationaler Handlungsgrund ist also das Ergebnis der Suche nach „dem besten Grund“, der in die Handlung umgesetzt wird.

Searle hält fest, dass die Suche nach Rationalität in drei Leerstellen anzustellen ist.

  • Die Leerstelle rationaler Entscheidungsfindung: die Erklärungslücke zwischen Gründen, die zum Erwägen einer Handlung führen und denen der tatsächlichen Entscheidung für eine Handlung.
  • Die Leerstelle zwischen Entscheidung und Handlung: Sie verweist darauf, dass eine Entscheidung allein noch keine Handlung herbeiführt, Entscheiden und Handeln sind zu unterscheiden.
  • Die Leerstelle zwischen Handlung und Aktivität: Nach Beginn einer Handlung besteht manchmal die Notwendigkeit, den Prozess der Handlung freiwillig fortzuführen.[4]

In diesen drei Leerstellen ist nach Searle der freie Wille zu verankern. Searle unternimmt in Rationality in Action systematische Ansätze, sie zu füllen.

Verwendung des Faktitiv im Modell[Bearbeiten]

Searle führt die Faktitive in seinem Buch Rationality in Action unter der einleitenden Hypothese ein, dass einige der Annahmen, die Aristoteles für Rationalität trifft, nicht zufriedenstellend seien.[5] Darunter für die Faktitive relevant ist die Annahme, alle rationalen Handlungen seien motiviert durch beliefs und desires.[6] Searle widerspricht dem: ihm zu Folge gibt es rationale Handlungen, die nicht durch Bedürfnisse oder Überzeugungen motiviert werden, wie beispielsweise das Pflichtbewusstsein.[7] Dinge wie Bedürfnisse, Erforderlichkeiten und Pflichten sind nach Searle faktitive Entitäten, also rational motivierende Handlungsgründe, die aber immer abhängig vom Beobachter sind, sie sind relativ zur menschlichen Intentionalität. Der Begriff der Faktitive soll verdeutlichen, dass Handlungsgründe in vielerlei Formen variieren und dennoch rational eine Handlung motivieren können und so Aristoteles’ Modell erweitern, das viele dieser Handlungsgründe als rational anerkennt.

„All reasons are propositionally structured entities: they may be facts in the world such as the fact that it is raining, or they may be propositional intentional states such as my desire that I stay dry. They can also be propositionally structured entities that are neither facts nor intentional states, entities such as obligations, commitments, requirements, and needs.“

„Alle Begründungen sind propositional strukturierte Entitäten: Sie können Fakten in der Welt sein, wie der Fakt, dass es regnet, oder sie können propositionale intentionale Zustände sein, wie mein Bestrebnis, trocken zu bleiben. Sie können auch propositional strukturierte Entitäten sein, die weder Fakten noch intentionale Zustände sind, Entitäten wie etwa Verpflichtungen, Absprachen, Notwendigkeiten und Bedürfnisse.“

– John R. Searle[2]

Searle trifft Unterscheidungen entlang der Gegensatzpaare epistemisch/ontologisch und subjektiv/objektiv:

  • epistemisch objektiv sind Aussagen über die Welt, die richtig oder falsch sind, unabhängig davon, wer sie trifft (Bsp.: "Der Jupiter hat sieben Monde").
  • epistemisch subjektiv sind Aussagen über die Welt, deren Gültigkeit abhängig von der Meinung des Behauptenden entschieden werden kann (Bsp.: "Ali war der beste Boxer aller Zeiten").
  • ontologisch objektiv sind Objekte, die unabhängig vom betrachtenden Subjekt existieren (Berge, Flüsse, Bäume).
  • ontologisch subjektiv sind Objekte, die in ihrem Dasein von einem wahrnehmenden Subjekt abhängig sind (Schmerz, Jucken, Freude).[8]

Viele Dinge, die rationale Handlungen motivieren, sind nach Searle zugleich ontologisch subjektiv und epistemisch subjektiv: Pflichtbewusstsein hängt nicht nur von der Tatsache ab, dass eine Pflicht vereinbart wurde (ontologische subjektiv), sondern auch davon, dass der sich Verpflichtende diese als seine Pflicht wahrnimmt (epistemisch subjektiv). Searle behauptet daher, dass rationale Handlungsgründe an keinen allgemeinen Grundsatz von moralischer Etikette gebunden sind; was für den einen rational ist, muss es nicht zwangsläufig für jeden anderen sein. Aussagen aller vier genannten Kategorien können faktitive Entitäten in Bezug auf Handlungen sein, somit sind für Searle sind Rationalität und Subjektivität voll vereinbar. Damit stellt er sich gegen eine landläufige, von Aristoteles stammende Annahme, dass die Rationalität einer Handlung ausschließlich in der Rückführbarkeit auf objektiv feststellbare Annahmen und Bedürfnisse besteht.

Auf die Frage allerdings, wodurch diese faktitive Struktur entsteht und warum diese Struktur für Handlungsgründe unabwendbar ist, antwortet Searle eher vage:

„Why do reasons have to have a factitive structure? I don't know. My guess is that you have to be able to reason with reasons and you can only reason with something that has a propositional structure.“

„Warum müssen Gründe eine faktitive Struktur haben? Ich weiß nicht. Meine Vermutung ist, dass man mit Gründen schlussfolgern können muss und man kann nur mit etwas schlussfolgern, das propositionale Struktur hat.“

– John R. Searle[9]

Literatur[Bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten]

Siehe auch[Bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. John R. Searle: The Logical Structure of Reasons. In: Rationality in Action. S. 101 ff.
  2. 2,0 2,1 John R. Searle: The Logical Structure of Reasons. In: Rationality in Action. S. 103.
  3. John R. Searle: Some Special Features of Practical Reason: Strong Altruism as a Logical Requirement. In: Rationality in Action. S. 142–149.
  4. So beispielsweise beim Schreiben eines Buches; Searle betont mit dem Begriff „Aktivität“, dass manche Handlungen über Jahre hinweg motiviert werden müssen, um abgeschlossen zu werden. Vgl. John R. Searle: The Classical Model of Rationality and Its Weaknesses. In: Rationality in Action. S. 14–15.
  5. John R. Searle: The Classical Model of Rationality and Its Weaknesses. In: Rationality in Action. S. 7.
  6. John R. Searle: The Classical Model of Rationality and Its Weaknesses. In: Rationality in Action. S. 11.
  7. John R. Searle: The Classical Model of Rationality and Its Weaknesses. In: Rationality in Action. S. 12–17.
  8. John R. Searle: The Basic Structure of Intentionality, Action and Meaning. In: Rationality in Action. S. 55–56.
  9. John R. Searle: The Logical Structure of Reasons. In: Rationality in Action S. 104.
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