Debatten zur Diskrepanzdefinition

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Diskussionen zur Definition und Diagnostik der Legasthenie lassen sich als Debatte darüber verstehen, ob ein Unterschied zwischen lese-rechtschreibschwachen Kindern mit deutlich höherem Intelligenzniveau als ihre Leistungen in Lesen und Rechtschreibung oder geringerem Intelligenzniveau besteht. Diese Debatte hat vor allem daher eine Relevanz, da diese Unterscheidung die Förderung auf eine kleine Gruppe von Personen, bei denen Diskrepanz vorliegt, beschränkt und Kindern, die das Diskrepanzkriterium nicht erfüllen, eine notwendige Förderung verwehrt. Diese Diskussionen beschränken sich nicht nur auf eine Lernstörung im Bereich der Lese- und Rechtschreibleistung, sondern werden auch bezüglich Rechenstörungen geführt.[1] Die Mehrheit der Wissenschaftler ist sich einig, dass die Verwendung einer Intelligenz-Leistungs-Diskrepanz für die Identifikation von Schülern mit Legasthenie aufgrund der Messfehleranfälligkeit der Diskrepanzberechnungen problematisch ist,[2] doch bei der Diskussion über die tatsächliche Relevanz kommen Uneinigkeiten auf.

Überblick einzelner Standpunkte[Bearbeiten]

Siegel vertritt 1989 in ihrem Artikel „IQ Is Irrelevant to the Definition of Learning Disabilities“[3] die Position, dass Intelligenz und Legasthenie unabhängig voneinander sind. Sie leitet in einem ersten Schritt aus der Diskrepanzdefinition von Lernstörungen vier Grundannahmen ab, die gelten müssten, damit die Diskrepanzdefinition zutrifft:

  1. IQ-Tests messen Intelligenz.
  2. Das Vorhandensein von Lernstörungen hat keinen Einfluss auf die IQ-Werte, d.h. Legasthenie wird durch kognitive Defizite verursacht, welche keinen Einfluss auf die Intelligenz haben.[1]
  3. IQ-Werte sagen Lese-Werte vorher – Kinder mit niedrigen IQ-Werten sollten schlechte Leser sein und Kinder mit hohen IQ-Werten gute Leser.
  4. Personen mit Lesestörung mit unterschiedlichen IQ-Levels haben unterschiedliche kognitive Prozesse und Informationsverarbeitungsfähigkeiten.

Da jedoch viele Unterskalen von Intelligenz andere Dinge als Intelligenz messen (widerspricht Annahme 1) und Kinder mit Lernstörungen dadurch schlechtere Ergebnisse erzielen (widerspricht Annahme 2), sowie es auch Overachiever gibt, welche erwartungswidrige Leistungen oberhalb ihres IQ-Levels erreichen (widerspricht Annahme 3), ist es aus Siegels Sicht unangebracht, IQ-Tests zur Diagnostik von schwachen Lese- und Rechtschreibleistungen zu verwenden. Zudem konnten beim Vergleich von Kindern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche (definiert über ihre Leistung in einem Lesetest mit einem Wert ≤ 25. Perzentil), welche in unterschiedliche IQ-Gruppen aufgeteilt waren (< 80, 80-90, 91-109, ≥ 110), keine Unterschiede in der Art der Bearbeitung von Lese- und Rechtschreibaufgaben gefunden werden. Es gibt somit keine Unterschiede als Funktion von IQ-Levels (widerspricht Annahme 4)[3]. Mit ihrer Stellungnahme fordert Siegel die Grundannahmen des Konstrukts Lernstörung heraus und erhält dafür Zustimmung aber auch Kritik aufgrund ihrer deutlichen Ablehnung der Relevanz von Intelligenz.

Während Lyon[2] (1989) grundsätzlich der Herausforderung des Konstrukts zustimmt, kritisiert er in seiner direkten Antwort auf Siegels Artikel ihre Generalisierung von Studien mit Lese- und Rechtschreibaufgaben auf Lernstörungen allgemein. Ebenso wie die Generalisierung sei es auch eine begrenzte Sichtweise, Siegels Hypothese zu unterstützen, dass Intelligenz irrelevant für die Definition von Lernstörungen ist. Lyon stimmt Siegel zu, dass operationale Definitionen problematisch sind, welche Intelligenz auf das begrenzen, was IQ-Tests messen. Er widerspricht jedoch der Argumentation, dass IQ-Messungen keine validen Messungen von Intelligenz sind, da sie mit Leistung konfundiert sind. Denn Intelligenz und schulische Leistung sind nicht unabhängig voneinander.[2] Lyon bezieht die Schwierigkeiten bei der Diagnostik von Lernstörungen mit Diskrepanzdefinitionen mehr auf die Operationalisierung und Identifizierung als auf das Lernstörungskonstrukt an sich. Es wäre nach Ansicht von Lyon verfrüht, das Konzept Intelligenz aus der Definition von einer Lernstörung zu streichen, bevor wir feststellen können, wie Unterschiede in IQ-Werten und IQ-Unterskalen zur Entwicklung beitragen.

Auch Naglieri und Reardon[4] üben 1993 Kritik an der von Siegel angenommenen Unabhängigkeit von Intelligenz und Lese- und Rechtschreibleistung. Sie argumentieren, dass Intelligenz mit dem Intelligenztest HAWIK gemessen ungeeignet für Differentialdiagnosen ist. Intelligenztests basieren stets auf einer bestimmten Sichtweise von Intelligenz und der HAWIK ist nicht das einzige und richtige Messinstrument für Intelligenz. Naglieri und Reardon zeigen, wenn man Intelligenz mit dem PASS Modell (Planning/ Attention/ Simultaneous/ Successive) operationalisiert, Intelligenz durchaus relevant ist und Legasthenie vorhersagen kann.

Da sich Intelligenz nicht gut für die Vorhersage von Erfolg einer Förderung eignet, vertreten Klicpera und Gasteiger-Klicpera[5] 2001 die Meinung, dass der Intelligenzbestimmung auch keine Relevanz bei der Entscheidung über eine Förderung zukommen sollte. Bei Kindern mit Legasthenie wurden Schwierigkeiten bei der phonologischen Analyse und dem Rekodieren der Phonemfolge gefunden. Klicpera und Gasteiger-Klicpera grenzten die zwei Komponenten des Rechtschreibprozesses phonologisches Rekodieren und Anwendung orthographischen Wissens, im Vergleich zu vorhergehenden Studien, voneinander ab. Beim Vergleich von diskrepanten Kindern mit Legasthenie und Kindern mit Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben und unterdurchschnittlicher Intelligenz (nicht-diskrepante Kinder) fanden sich keine Unterschiede beim phonologischen Rekodieren und in den phonologischen Fertigkeiten. Nur im Vergleich mit Kindern mit durchschnittlicher Lese- und Rechtschreibleistung zeigten die leserechtschreibschwachen Kinder (diskrepante und nicht-diskrepante Kinder) deutlich größere Schwierigkeiten. Diskrepante Kinder waren jedoch den nicht-diskrepanten Kindern im orthographischen Wissen überlegen, wobei der Vorsprung in höheren Klassen zurückgeht.[5] Aus der Untersuchung von Klicpera und Gasteiger-Klicpera lässt sich der Schluss ziehen, dass es keine legastheniespezifischen Defizite gibt, was eine der wesentlichen impliziten Annahmen der Diskrepanzdefinition widerlegen würde. Um diese Frage der ähnlichen oder unterschiedlichen Defizite genauer zu überprüfen, verglichen Metz, Marx, Weber und Schneider[6] 2003 Legastheniker (diskrepante Kinder) mit durchschnittlichen Schülern (beide Gruppen mit IQ ≥ 85) und allgemein lese- und rechtschreibschwache Schüler (nicht-diskrepante Kinder) mit Overachievern, Schüler, welche trotz niedrigem Intelligenzniveau erwartungswidrige gute Leistungen im Lesen und Rechtscheiben erreichen (beide Gruppen mit IQ < 85). Sollte man nur Unterschiede zwischen den Legasthenikern und den durchschnittlichen Schülern, nicht jedoch zwischen den Overachievern und nicht-diskrepanten Kindern finden, so würde das auf ein spezifisches Ursachenmuster von Legasthenie schließen lassen. Metz, Marx, Weber und Schneider zeigten jedoch, dass beide Gruppen mit lese- und rechtschreibschwachen Kindern im Vergleich zu ihrer Gruppen gleicher Intelligenz (parallelisiert) vergleichbare Defizite in den Aufgaben aufzeigen. Diese Befunde lassen Metz, Marx, Weber und Schneider darauf schließen, dass Legasthenie und Overachievement als normale Variation betrachtet werden sollten.[6] Es gibt keine spezifischen Defizite, die Intelligenz spielt beim Schriftspracherwerb eine eher untergeordnete Rolle.


Trotz der deutlichen und immer differenzierter werdenden Befundlage, welche die Störungsspezifität widerlegt und die Relevanz der Intelligenz für den Erfolg einer Förde-rung als nicht bedeutsam erscheinen lässt, ist die Diskrepanzdefinition noch weitgehend akzeptiert. So findet sie sich in den Diagnosekriterien der ICD-10 (umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten F81).[7] Es bleibt zu spekulieren, ob diese Akzeptanz als ein wissenschaftliches Relikt anzusehen ist oder Unterstützung in der politischen Absicht findet, eine Förderung auf eine möglichst kleine Gruppe zu beschränken.[5]

Siehe auch[Bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. 1,0 1,1 González, J. E. J. & Espínel, A. I. G. (1999). Is IQ-Achievement Discrepancy Relevant in the Definition of Arithmetic Learning Disabilities? Learning Disability Quarterly, 22(4), 291–301.
  2. 2,0 2,1 2,2 Lyon, G. R. (1989). IQ Is Irrelevant to the Definition of Learning Disabilities: A Position in Search of Logic and Data. Journal of Learning Disabilities, 22 (8), 504-512.
  3. 3,0 3,1 Siegel, L. S. (1989). IQ Is Irrelevant to the Definition of Learning Disabilities. Journal of Learning Disabilities, 22 (8), 469-479.
  4. Naglieri, J. A. & Reardon, S. M. (1993). Traditional IQ Is Irrelevant to Learning Disabilities - Intelligence Is Not. Journal of Learning Disabilities, 26 (2), 127-133.
  5. 5,0 5,1 5,2 Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2001). Macht Intelligenz einen Unterschied? Rechtschreiben und phonologische Fertigkeiten bei diskrepanten und nichtdiskrepanten Lese/Rechtschreibschwierigkeiten. Zeitschrift für Kinder-und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 29 (1), 37–49.
  6. 6,0 6,1 Metz, U., Marx, P., Weber, J. & Schneider, W. (2003). Overachievement im Lesen und Rechtschreiben. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 35 (3), 127–134.
  7. Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H. & Schulte-Markwort, E. (Hrsg.). (2004). Internationale Klassifikation psychischer Störungen : ICD-10 Kapitel V (F), diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. Bern: Huber. ISBN 3-456-84098-5
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